Schreiben Gefühle Geschichte?

Die Kultur beeinflusst die Gefühle der Menschen und umgekehrt. Am Beispiel Indiens lässt sich dieses Zusammenspiel gut untersuchen

Gefühle sind universell – könnte man meinen. Doch Wissenschaftler um Margrit Pernau am Berliner Max-Planck- Institut für Bildungsforschung bezweifeln das. Am Beispiel Indien untersucht die Gruppe, wie sehr das kulturelle Umfeld Emotionen im Laufe der Geschichte geprägt hat.

Text: Tina Heidborn

Der Experte für schwer Verständliches sitzt hinter der ersten Tür. Oft genügt ihm ein kurzer Blick auf den Text, an dem die anderen verzweifeln. „Es ist toll, jemanden im Team zu haben, der Arabisch, Persisch und Urdu auf muttersprachlichem Niveau beherrscht. Selbst Handschriftliches zu lesen macht ihm keine Probleme“, sagt Margrit Pernau, die Projektleiterin. Ihr Doktorand Mohammad Sajjad lächelt bescheiden, wenn man ihn nach seinen Sprachkenntnissen fragt.

Als Sajjad seinen Freunden in der Heimat erzählte, er würde für seine Doktorarbeit mit einem Stipendium nach Deutschland gehen, war das Erstaunen groß: Ein Inder, der über ein indisches Thema in Deutschland promoviert, eingebunden in eine internationale Forschergruppe – geht das überhaupt? Aber am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ist Indien Programm, denn es ist Schwerpunktthema bei der Erforschung der Geschichte der Gefühle.

Seit Januar 2008 beschäftigen sich Historiker um Direktorin Ute Frevert mit der Frage, ob Gefühle Geschichte machen. Sie spüren ihnen und ihren Veränderungen im Geschichtsverlauf nach und untersuchen, welche Bedeutung ihnen zukommt. „Wir glauben ja gern, dass unsere eigenen Gefühle universell sind“, sagt Margrit Pernau. Sie und ihre Kollegen aber sind angetreten, um genau diese Annahme in Frage zu stellen. Die Kernthese lautet: Gefühle sind kulturell geprägt. Menschen lernen in ihrem Umfeld, wann sie welche Empfindungen haben und welchen Ausdruck sie ihnen verleihen sollen oder dürfen.

Damit können sich die Regeln für Gefühle im Laufe der Geschichte ändern, ebenso wie die Ausdrucksformen für Gefühle. Und: Gefühle sind damit auch eingebettet in eine spezifische kulturelle Umgebung. „Wir brauchten einen Raum, der nach anderen Regeln funktioniert als der westlich-europäische“, sagt Pernau. Und so wurde Indien Teil des Untersuchungsfelds. 

Der Subkontinent liegt einerseits weit genug entfernt von Europa, um wirklich anders zu sein. Und im Unterschied zum geografisch ebenfalls weit entfernten Südamerika wurde Indien auch nicht maßgeblich von europäischen Einwanderern geprägt. Auf der anderen Seite ist Indien aber mit dem europäischen Raum historisch verbunden, insbesondere durch die britische Kolonialphase. „Seit 300 Jahren bestehen enge Beziehungen zwischen Indien und Europa, und zwar wechselseitig und in beide Richtungen“, sagt Margrit Pernau.

In diesem Sinne ist Indien, von Europa aus gesehen, weniger anders als China. Für die Wissenschaftler war der Subkontinent also eine ideale Ergänzung, um Gefühlen im Laufe der Geschichte nachzugehen – und zugleich den Verflechtungen zwischen südasiatischer und westlich-europäischer Kultur. Allerdings ist Indien auch ein ziemlich anspruchsvolles Untersuchungsfeld, allein schon sprachlich. Denn auch Emotionshistoriker tun das, was alle Historiker tun: Sie suchen Quellen, lesen und interpretieren sie. Im Büro von Projektleiterin Margrit Pernau sind drei Regale mit Büchern vollgestellt. Geschwungene Schriftzeichen ziehen sich über die farbenfrohen Einbände, Schönschrift, ansprechend aufgemacht: Indische Ratgeber: „Wie werde ich eine gute Braut?“, „Wie erziehe ich meine Tochter zu einer guten Braut?“, „Welche Rechte hat ein Ehemann gegenüber seinen Schwiegereltern?“

Für Margrit Pernau sind dies wichtige Quellen, denn ihnen kann sie „Gefühlsregeln“ für bestimmte Situationen entnehmen: Wie muss ich mich als Braut verhalten, wie als Ehemann, wie als Schwiegermutter? Die Normierung von Gefühlen, wie man sie etwa in Ratgeberliteratur findet, ist eine mögliche Zugriffsseite für die Historiker. Beim Blick in diese Bücher wurde den Wissenschaftlern schnell deutlich, dass hinter anderen Gefühlsregeln oftmals andere Sozialstrukturen stehen.

Wie werde ich eine ideale Ehefrau und Schwiegertochter? Indische und deutsche Ratgeber gehen hier von höchst unterschiedlichen Konstellationen aus: „In einer Großfamilie mit Geschlechtertrennung, wie es dem indischen Modell entsprach, waren die Hierarchien völlig anders als im europäischen Modell der Kleinfamilie“, sagt Pernau. Vater, Mutter und Kind machten in Indien lange Zeit nicht den Kern der Familie aus: Stattdessen blieben die Söhne bei ihren Eltern im Hause und holten ihre Frauen dazu.

In der Vergangenheit fühlten die Menschen anders

In Konflikt gerieten deshalb oftmals die Schwägerinnen untereinander, also die angeheirateten Schwiegertöchter des Hauses. „Oft trugen ihre Männer, also die Brüder des Hauses, ihre Konflikte untereinander auch über die Frauen aus“, beschreibt Margrit Pernau die Situation. Und fügt hinzu: „Völlig andere Bedingungen für das Emotionsmanagement innerhalb der Familie.“

Werte und Gefühlsnormen vergangener Zeiten lassen sich aber nicht nur der Ratgeberliteratur im engeren Sinne entnehmen. Auch Schulbücher sind Quellen: Was sollen etwa Frauen lernen, was Männer? Welche Werte vermitteln Schulbücher? Erziehung ist immer auch eine Erziehung von Gefühlen. Hinzu kommen Texte, die sich ausdrücklich mit Emotionen befassen, also beispielsweise wissenschaftliche Texte, die die Entstehung von Gefühlen erklären, oder philosophische und theologische Abhandlungen. Verbote, Moral, ethisches Verhalten – das war und ist ein Dauerbrenner durch die Geschichte hindurch.

Doch nicht nur Vorschriften für Gefühle, sondern auch den Ausdruck von Gefühlen verfolgen die Max-Planck- Forscher durch unterschiedliche Zeiten und Kulturen hindurch. Wer schreibt, offenbart oftmals Empfindungen: seine eigenen oder die von anderen. Zu der von Männern geschriebenen Literatur kamen auch in Indien vom 19. Jahrhundert an verstärkt Texte von Frauen hinzu: Sie begannen, Romane, Autobiografien, Briefe zu schreiben.

Gefühle scheinen zunächst eine eher ungewöhnliche Kategorie für Historiker zu sein. Aber bei näherem Hinsehen tun sich jede Menge höchst unterschiedlicher Quellen auf. Im Falle Indiens kommen diese Quellen in vielen verschiedenen Sprachen daher: Hindi, Urdu, Persisch, Arabisch; erst sehr viel später Englisch. Das, sagt Margrit Pernau, stelle hohe Anforderungen. Zu ihrem Team gehören zurzeit vier Doktoranden, zwei deutsche, zwei indische. „Ich hätte niemand an ein rein indisches Thema gesetzt, der nur Quellen auf Englisch lesen kann. Mindestens eine der gängigen Sprachen braucht man“, sagt Pernau. Die beiden deutschen Doktorandinnen haben Indologie studiert, eine der beiden promoviert über Ratgeberliteratur auf Hindi. Sie ist gerade zu einem zweimonatigen Forschungsaufenthalt nach Indien aufgebrochen.

Ein Sprachtalent aus Delhi für das Projekt in Berlin

Mohammad Sajjad hat sich im Oktober 2008 in Gegenrichtung auf den Weg gemacht: Der Mittdreißiger mit dem vollen schwarzen Bart hat sich von Delhi aus bei dem Berliner Projekt beworben. Ursprünglich stammt er aus dem Distrikt Dinajpur, im nordwestlichen Teil des indischen Bundesstaates Westbengalen. Seine Muttersprache ist ein örtlicher Dialekt, eine Mischung aus den Hochsprachen Bengalisch, Urdu und Hindi. Sechs Jahre hat er auf einer Madrasa, einer muslimischen Religionsschule, in Uttar Pradesh verbracht. Deshalb hat sich Sajjad sechs Jahre darin geübt, drei wichtige Sprachen zu lesen, nicht nur gedruckt, sondern auch handschriftlich: Urdu, Persisch, Arabisch.

Für Indien-Historiker ist gerade Persisch, das lange Zeit die Sprache an den Mogulenhöfen war, wichtig. Auf der Madrasa fiel Sajjads Talent auf, sie schickten ihn weiter auf eine der Universitäten in Delhi. Wieder eine neue Sprache: Englisch, die gängige Unterrichtssprache der indischen Hochschulen. Dort an der Universität in Delhi machte eine seiner Professorinnen den Studenten auf die Ausschreibung des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung aufmerksam.

Das, was Mohammad Sajjad erforscht, fügt sich nahtlos ein in die Geschichtsschreibung der Gefühle: Er analysiert das Verhältnis zwischen Meister und Schülern im Sufismus, der wichtigsten mystischen Strömung im Islam. Im Sufismus weisen Sufi-Meister ihren Schülern den Weg zu Allah. Bereits im 13. Jahrhundert entwickelte sich dafür ein sehr differenzierter Verhaltenskodex (adab): Er schrieb vor, wie die spirituelle Beziehung zwischen Lehrer und Schüler auszusehen habe.

So begab sich ein Schüler vollständig in die Hände seines Lehrers und bekräftigte seinen Gehorsam mit einem Schwur (bay’ah). Festgelegt wurde auch, was der Schüler gegenüber seinem Meister zu fühlen hatte: So sollte ein Schüler seinem Lehrer gegenüber hayba empfinden – Ehrfurcht, Angst und Respekt. Große Sufi-Meister und ihre Schulen etablierten über die Jahre religiöse Praktiken und Traditionen. Die Liebe der Schüler zu ihrem Sufi-Meister endete sogar mit dessen Tod nicht: Oftmals verehrten sie ihn rituell an seinem Totenschrein weiter.

Doch im 18. Jahrhundert, als der indische Islam enorm aufblühte und mit ihm das religiöse Schrifttum, wurde Kritik laut: „Reformorientierte muslimische Rechtsgelehrte (Ulama) entfachten eine Debatte, welche Emotionen gegenüber einem Sufi-Meister angemessen und welche nicht angemessen seien“, sagt Sajjad. „Sie warfen den Sufisten sogar Polytheismus vor, die schwerste und unverzeihlichste Sünde im Islam.“

Sajjad untersucht wichtige Akteure, einzelne Personen und Gruppen (emotional communities) unter den muslimischen Reformern und Sufisten in Nordindien zwischen 1750 und 1830 sowie die theologischen Dispute, die sie führten. Die Quellen, die der Wissenschaftler heranzieht, sind vielfältig: Reden ihres Meisters, die die Schüler aufschrieben (malfuzat) ebenso wie hagiografische Beschreibungen des Meisters aus Schülerhand (tazkirahs). Hinzu kommen Handschriften, Briefwechsel (maktubat) und mystische Poesie. Sie alle bezeugen eines: die Kultivierung bestimmter Gefühle innerhalb einer mystisch- religiösen Praxis.

Beide Seiten sollten voneinander lernen

Auch wenn bei der Beschäftigung mit Religiösem die Bedeutung von Gefühlen auf der Hand liegt – dass man Geschichtsschreibung explizit unter dem Blickwinkel der Emotionsforschung betreiben kann, hat der Inder Mohammad Sajjad erst im Zusammenhang mit dem Berliner Projekt gelernt. Hier musste er sich systematisch in die Methoden und Schulen europäischer Geschichtsschreibung einarbeiten. „Es ist sehr hilfreich, dass man hier mit Kollegen zusammensitzt. So gibt es einen Kollegen, zu dem ich immer gehe, wenn es um Diskurstheorie geht“, sagt er. Die Kollegen dagegen kommen zu Sajjad, wenn sie mit Quellen auf Urdu, Arabisch oder Persisch allein nicht weiterkommen. „Es ist wirklich ein Dialog zwischen uns. Und er geht in beide Richtungen“, sagt Mohammad Sajjad.

Und wie es bei dem Projekt im Kleinen, zwischen den Mitarbeitern geht, so soll es auch im Großen funktionieren: Es soll keine Einbahnstraße sein, Deutschland – Indien, nur in der einen Richtung. Vielmehr soll die Zusammenarbeit sich gegenseitig befruchten. Deshalb hat Margrit Pernau darauf bestanden, dass alle europäischen Kollegen im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ sich mit Indien und indischer Kultur und Sprache beschäftigen mussten: „Erst gab es Berührungsängste, aber dann doch eine große Offenheit und Bereitschaft. Und die Feststellung: So fremdartig ist die indische Kultur dann doch nicht. Das hat erstaunlich gut geklappt.“

Nun ringt man gemeinsam. Denn das Projekt mit dem Blick auf Indien und Europa ist eine Übersetzungsarbeit, wörtlich wie inhaltlich. „Die Übertragung europäischer Modelle eins zu eins auf die indischen Verhältnisse funktioniert einfach nicht“, erklärt Sajjad. So wie man Ausdrücke oftmals nicht einfach übertragen kann, ein Wort auf Urdu oder Persisch, ein Wort auf Deutsch oder Englisch. Stattdessen muss man umschreiben, den Kontext klären, implizite Konnotationen offenlegen.

Wenn Mohammad Sajjad seine Arbeit erklären will, muss er ausholen. Etwa beim Begriff „Liebe“: Denn der Sufismus kennt unterschiedliche Arten und Stufen der Liebe auf dem religiösen Weg zu Allah. Viele verschiedene Ausdrücke, fein nuanciert, bezeichnen verschiedene Zustandsstufen der Liebe zu Gott, die der Mystiker erreicht hat. Es genügt nicht, wenn Sajjad diese theologischen Begriffe in englische Vokabeln übersetzt. Er muss seinen Kollegen die fremde Welt erklären, die hinter diesen Worten steht.

Projektleiterin Margrit Pernau weiß um die Schwierigkeiten, die der Blick auf unterschiedliche kulturelle Welten mit sich bringt: Oft misst man die andere fremde Kultur an der eigenen Messlatte. So soll es dem Schwerpunkt Indien beim Schreiben einer Geschichte der Gefühle nicht ergehen. Stattdessen wollen die Wissenschaftler gemeinsam neue Konzepte entwickeln, in die Ansätze und Forschungen von europäischer wie von indischer Seite einfließen. Von unterschiedlichen Blickwinkeln aus mehr sehen – das ist die Motivation.

Vertrauen bestimmt die Wirtschaftsgeschichte

„Mit dem Begriff Emotionen kann man als Historikerin gut arbeiten. Nicht nur in der Kulturgeschichte, was ja relativ naheliegend ist, sondern beispielsweise auch in der Wirtschaftsgeschichte“, sagt Pernau. Ein zentraler Begriff, mit dem sich Wirtschaftsgeschichte beschreiben lässt, sei etwa Vertrauen: „Wir merken doch selbst gerade in der Wirtschaftskrise, wie wichtig ein Gefühl wie Vertrauen für das Funktionieren der Wirtschaft ist.“ Das ist in der Gegenwart nicht anders, als es in der Vergangenheit war.

Der zweite indische Doktorand in Pernaus Gruppe arbeitet in diesem Sinne: Er beschäftigt sich mit dem Begriff der Ehre in der modernen hinduistischen Nationalbewegung, und zwar am Beispiel einer bestimmten kaufmännischen Elite in Gujarat zwischen 1858 und 1922. In der Welt dieser Kaufmannschaft waren Ehre, Prestige, Vertrauen und Kreditwürdigkeit eng miteinander verflochten, für „Ehre“ und für „Kreditwürdigkeit“ benutzten sie sogar dasselbe Wort. Der Doktorand untersucht, wie das traditionelle Konzept von Ehre und Kreditwürdigkeit und die damit verbundenen Gefühle in den aufkommenden Hindu-Nationalismus übertragen und dabei verändert wurden.

Margrit Pernau selbst hat studiert, welche Bedeutung der Religion für den sozialen Status einer bestimmten muslimischen Händlergruppe, den sogenannten Panjabi-Händlern, in Delhi zukam. Sie beherrschten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein weit gestrecktes Handelsimperium und gehörten vor der Teilung des indischen Subkontinents 1947 zu den wohlhabendsten Muslimen in Delhi.

Als zu Reichtum gekommene Konvertiten waren sie bemüht, ihren sozialen Status zu heben, denn traditionellerweise führten Einwanderer aus islamischen Ländern die Spitze der sozialen Rangordnung an: Sie galten als ashraf (das zugrunde liegende Adjektiv sharif lässt sich etwa mit „edel“ übersetzen) und standen über ihren konvertierten einheimischen Glaubensbrüdern, den ajlaf.

Die Panjabi-Händler aber waren ajlaf, denn sie waren im Laufe des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen hinduistischen Kasten zum Islam übergetreten. „Die Religion garantierte den inneren Zusammenhalt dieser Gruppe“, sagt Pernau. Doch ihre Bedeutung ging noch weiter: Sie öffnete den Panjabi den Weg zum sozialen Aufstieg. Denn die Panjabi schlossen sich der islamischen Reformbewegung an, deren Zentrum ab Mitte des 18. Jahrhunderts Delhi war.

Die Reformer kritisierten die herrschende islamische Adelselite scharf und forderten die Rückkehr zu den religiösen Quellen: Ihr Idealbild beruhte statt auf der Abstammung auf persönlicher Frömmigkeit und aktivem Eintreten für den Islam, etwa in Form von Wohltätigkeit. „Damit grenzten sich die Werte des Reformislam von den Verhaltensnormen der traditionellen Oberschicht ab“, so Pernau.

Die Panjabi bauten in der Folge zahlreiche Moscheen und Schulen und betätigten sich karitativ. Über ihre persönliche Frömmigkeit und ihr tätiges Handeln erwarben die reich gewordenen ajlaf damit soziale Ehre. „Die Religion war die wichtigste Ressource, um die sozialen Grenzen zu überwinden“, beschreibt die Forscherin den Prozess. „Religion garantierte den Panjabi Anspruch auch auf eine gesellschaftliche Führungsposition.“

Die historische Entwicklung nicht außer Acht gelassen

Margrit Pernau ist hier bei einem ihrer Schwerpunkte: Schon in ihrer Habilitationsschrift hat sie die Entstehung eines muslimischen Bürgertums im Delhi des 19. Jahrhunderts untersucht. Natürlich hatte sie als Historikerin die Entwicklung in Deutschland im Hinterkopf – und wie deutsche und europäische Historiker um die Definition des „Bürgertums“ für den westeuropäischen Kulturraum lange Jahre gerungen haben. Doch sie hat in ihrer Arbeit dem indischen Kontext nicht die gängigen historischen Bürgertumsmodelle übergestülpt, sondern die historische Entwicklung in Delhi in ihrer Eigenständigkeit und Unterschiedlichkeit betrachtet.

„Die Rolle, die der Säkularisierung – der Rückzug der Religion aus dem öffentlichen Raum und die Entstehung politischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen – bei der Entstehung eines Bürgertums in Kontinentaleuropa zukam, hat im indischen Kontext teilweise die religiöse Reformbewegung übernommen“, lautet ihre Analyse. Pernaus forschungsmethodischer Ansatz sei herausragend, befand der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands und zeichnete sie mit seinem Habilitationspreis aus.

Dass sich Margrit Pernau Indien als Thema ausgesucht hat, hat eine Vorgeschichte, die in ihre eigene Kindheit zurückreicht. Von ihrem fünften bis achten Lebensjahr hat sie in Delhi gelebt, eine der vielen beruflichen Stationen ihres Vaters. Als Wissenschaftlerin ist sie wiedergekommen, für einen langen Forschungsaufenthalt von fast sieben Jahren und immer wieder für kürzere Quellenrecherchen. Jetzt beschäftigt sie sich von Berlin aus mit dem indischen Kulturraum. Und beackert mit der Emotionsgeschichtsschreibung zugleich ein relativ neues Feld innerhalb der Geschichtswissenschaften. „Gefühle – das könnte eine Grundkategorie in der historischen Forschung werden“, glaubt sie denn auch.

Vielleicht macht der Begriff eine ähnliche wissenschaftliche Karriere wie die Kategorie „Geschlecht“ (oder gängiger auf Englisch gender). Die Historikerin Pernau hält das für möglich: „Vieles erinnert mich an die Diskussionen, die wir in den 1970er-Jahren über die Bedeutung des Geschlechts für die Geschichtswissenschaft geführt haben. Da fingen Historikerinnen an, explizit Frauengeschichte zu schreiben – zusätzlich zur bis dahin üblichen Geschichtsschreibung, in der Frauen marginalisiert worden waren.“

Zivilisiert ist, wer Gefühle selbst beherrschen kann

In den Jahren danach aber wuchs sich die gezielt nachgeholte Frauengeschichtsschreibung immer weiter zu einer umfassenderen Geschlechtergeschichte aus: Vielfach wurde die bis dahin gängige Geschichtsschreibung darauf überprüft, inwieweit sie die Kategorie gender mitdachte. Innovative methodische Ansätze entstanden.

Der Blick auf das Geschlecht bescherte der Geschichtswissenschaft nicht nur die neue spezifische Subdisziplin der Gendergeschichte, sondern hatte grundsätzlichen Einfluss auf die Art, wie Geschichtswissenschaft fortan betrieben wurde. Margrit Pernau fasst es in ein Bild: „Gefühle – das ist nicht nur eine Ecke im großen Haus der Geschichte. Gefühle sind etwas, was sich durch alle Räume zieht“, sagt sie.

Deshalb sollte man auch in allen Räumen danach suchen. Historiker, die sich auf die Suche nach Gefühlen in der Vergangenheit machen, können damit auch Macht- und Politikgeschichte beschreiben. Pernau hat dies in einem grundlegenden Aufsatz vorgemacht: Sie hat die „Zivilisierungsmission“ der britischen Kolonialmacht in Indien von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht und dabei gezeigt, wie sich der Zivilisierungsgedanke an Emotionen festmachen lässt: Zivilisiert ist, wer seine (negativen) Gefühle selbst beherrschen kann.

„Mit der Aufklärung aber wandelt sich das Streben nach einer Zivilisierung der Gefühle von einer individuellen zu einer sozialen Aufgabe“, schreibt die Max-Planck-Forscherin. Nicht mehr nur das einzelne Individuum, ganze Gesellschaften werden als zivilisiert oder als nicht-zivilisiert und barbarisch charakterisiert – und damit auf einer höheren oder niedrigeren geschichtlichen Entwicklungsstufe verortet. Da das Konzept zugleich einen zunehmend universalen Anspruch erhebt, drückt sich die eigene Zivilität ab dem 19. Jahrhundert zunehmend im „Bemühen um Zivilisierung anderer“ aus.

Offenbar sind Gefühle doch ergiebiger für die Geschichtswissenschaft, als man bisher annahm. Müssen sich Historiker stärker auf die Wahrnehmung von Emotionen eichen? Der Forschungsbereich am Berliner Max- Planck-Institut für Bildungsforschung arbeitet daran. 

 

Glossar

Indischer Islam
Im 8. und 11. Jahrhundert kam es zu Gebietseroberungen durch muslimische Truppen von Afghanistan aus, zuvor hatten arabische Händler den Islam bereits an der Westküste Indiens verbreitet. Insgesamt regierten muslimische Dynastien rund 600 Jahre auf dem Subkontinent, etwa im Sultanat Delhi (1211 bis 1315) oder als Kaiser des Mogulreichs ab 1526. Von großer Bedeutung für die Verbreitung des Islams waren auch Missionare, die in der Tradition des Sufismus standen.

Mogul
Dynastie mongolischer Abstammung (1526 bis 1858). Seine größte Machtfülle und Ausdehnung erreichte das Mogulreich im 16. und 17. Jahrhundert. Nach Beginn der kolonialen britischen Vorherrschaft (1756) verlor es zunehmend an Bedeutung. Die Briten setzten den letzten Großmogul 1858 auch formell ab. Die Staats- und Hofsprache im Mogulreich war Persisch.

Sufismus
Eine der Hauptströmungen im Islam, oft als mystisch bezeichnet. Insgesamt handelt es sich bei dem Terminus „Sufismus“ um einen Oberbegriff, unter dem unterschiedliche Ausprägungen subsumiert werden. Die Anhänger des Sufismus, Sufis, suchen die unmittelbare und persönliche religiöse Erfahrung: Ihr Ziel ist die spirituelle Vereinigung mit Gott. Dazu haben sie unter anderem Methoden entwickelt, sich in ekstatische Trancezustände zu versetzen. Ab dem 12. Jahrhundert bildeten sich formale Orden aus.

Geschlechtergeschichte
Geschichtsschreibung mit Blick auf das Geschlecht (gender history), ursprünglich hervorgegangen aus der verstärkten Beschäftigung mit Frauen innerhalb der historischen Forschung ab den 1960er-Jahren. Insbesondere Feministinnen kritisierten damals, dass die vermeintlich neutrale Geschichtswissenschaft oft aus einer rein männlichen Perspektive verfasst sei. Mittlerweile hat sich „Geschlecht“ als eigene Kategorie etabliert: Es umfasst nicht nur das biologische Geschlecht, sondern wird auch als soziales und historisches Konstrukt verstanden. Historiker untersuchen etwa das Verhältnis von Geschlechtern oder auch geschlechtlich markierte Herrschaftsrelationen.

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