Modellfall Krebs
Als eines von wenigen Forscher-Teams weltweit arbeiten Hans Lehrach und seine Mitarbeiter an Computermodellen, die einmal alle Prozesse in einer Krebszelle und einer gesunden Zelle gleichzeitig nachstellen sollen. Aus den Zellen mit ihren unzähligen Wechselwirkungen und Reaktionsketten wird so im Computer ein Netzwerk aus Genen, Proteinen und mRNAs.
Text: Klaus Wilhelm
Denkt Hans Lehrach an seine Vision von einer Krebsmedizin der Zukunft, dann spielt die Analyse der Tumorproteine eine entscheidende Rolle. „Denn auf Proteinebene finden ja die eigentlich wichtigen biologischen Prozesse statt“, sagt der Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik. Zusammen mit Krebsexperten des Universitätsklinikums Charité will der Wissenschaftler die Behandlung von Krebs grundlegend verändern. „Wir wollen die Erfolgsaussichten einer Behandlung für einen Patienten vorhersagen und die Therapie entsprechend individuell auf ihn abstimmen“, erklärt Lehrach. Das Ziel: den Krebs entweder zu heilen oder ihn in eine chronische Krankheit umzuwandeln.
Proteine spielen bei Krebs eine entscheidende Rolle. Sie sind an den meisten Stoffwechselprozessen und Signalwegen einer Zelle beteiligt und steuern so unter anderem die Zellteilung – ein fein ausbalancierter Prozess, der im Zuge der Krebsentstehung außer Kontrolle gerät. Wie viele der etwa 10.000 Proteine einer Zelle daran beteiligt sind, ist immer noch unbekannt. Die Bauanleitung für die Proteine liegt in den Genen des Erbguts. Sie folgt oft, aber längst nicht immer der Regel: Ein Gen, ein Protein. Wird ein Gen von der Zellmaschinerie „abgelesen“, wie Fachleute sagen, entsteht zunächst als Zwischenschritt eine kurzlebige Boten-RNA, auch mRNA genannt. Sie dient als Matrize für die Produktion des jeweiligen Proteins.
In die Modelle des Wissenschaftlers fließen neben den eigenen Ergebnissen laufend neue Daten ein, die Forscher weltweit über das Genom, Transkriptom und Proteom gesunder und bösartiger Zellen gewinnen. „Bislang können wir aber nur einen Teil der molekularen Signalwege in der Zelle simulieren“, sagt Lehrach. Dank einer explosionsartigen technologischen Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren lassen sich Gene und mRNAs inzwischen sehr viel schneller analysieren. Neue DNA- und RNA-Sequenzierverfahren ermitteln beispielsweise selbst kleinste genetische Veränderungen in Krebszellen. Hunderte solcher Mutationen können in einem Tumor auftreten. Deshalb gleicht auch kein Tumor dem anderen.
Manche Mutationen wirken sich direkt auf die Proteine aus: Die Eiweiße funktionieren schlechter oder gar nicht mehr, in anderen Fällen sind sie aktiver als normal. Oder aber sie werden in übermäßig großen oder zu kleinen Mengen hergestellt.
Die Proteomik hat sich zum Ziel gesetzt, solche Unterschiede zwischen Zellen zu analysieren. Aber auch andere Veränderungen sind bedeutsam. „So werden Proteine nach ihrer Produktion häufig chemisch modifiziert und beispielsweise mit Anhängseln aus Phosphat-, Methyl- oder Azetylgruppen versehen. Dies beeinflusst ihre Funktion maßgeblich“, erklärt Markus Ralser vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik.
Diese so genannten posttranslationalen Veränderungen sind oftmals vorübergehend und flexibel. Aber auch die Proteine selbst haben eine je nach Bedarf der Zelle unterschiedliche Lebensdauer: Wird ein Protein häufig gebraucht, zerfällt es rasch und wird abgebaut. Benötigt eine Zelle bestimmte Proteine gerade nicht, bleiben diese lange in inaktivem Zustand. „Wenn ich also nur die mRNAs analysiere, weiß ich nicht, welche Proteine tatsächlich aktiv sind“, sagt Ralser, der inzwischen auch eine Arbeitsgruppe in Cambridge, Großbritannien, leitet. Aufschluss darüber kann nur die Proteomik geben.
Proteine sind allerdings weitaus schwieriger zu untersuchen als Gene, nicht nur wegen ihrer komplexeren Struktur aus 20 Aminosäuren. DNA oder RNA können die Forscher mit Hilfe natürlicher Enzyme nahezu beliebig vermehren, das erleichtert die Analyse. Proteine hingegen lassen sich nicht vermehren, so dass die Forscher mit unvorstellbar winzigen Mengen auskommen müssen – im Bereich von Milliardstel Milligramm. Derlei Größenordnungen erfordern extrem sensible Analyseverfahren.
Ein solches hochempfindliches Verfahren ist die Massenspektrometrie. Dabei werden alle Eiweiße einer Gewebeprobe von Enzymen an immer denselben Stellen in rund eine Million Peptid-Fragmente gehäckselt. Diese Bruchstücke werden mittels Nano-Chromatographie voneinander getrennt. Die Peptide werden schließlich elektrisch aufgeladen und im elektrischen Feld des Massenspektrometers je nach Masse auf unterschiedliche Bahnen abgelenkt. Aus der Flugzeit bis zum Auftreffen auf den Sensor des Massenspektrometers berechnen die Wissenschaftler die Masse der Peptide und ordnen sie bestimmten Proteinen zu. „Mit der Massenspektrometrie können wir komplexe Proteingemische analysieren und gleichzeitig ein einzelnes Peptid unter einer Million Peptiden nachweisen“, unterstreicht Ralser.
Einerseits wollen die Berliner Max-Planck-Wissenschaftler in ihren Proben aus gesundem und krankem Gewebe möglichst viele Proteine gleichzeitig entdecken. Dann können sie bestimmen, wie viele Proteine überhaupt vorhanden sind und wo sie in den verschiedenen Teilen der Zelle vorkommen. Andererseits müssen sie immer wieder einzelne Eiweiße herausfiltern und individuell untersuchen – zwei Anforderungen, die sich bislang gegenseitig behindert haben. „In absehbarer Zukunft werden wir beide Ansätze kombinieren können“, erklärt Ralser.
Ihre Vorgehensweise funktioniert inzwischen so gut, dass die Max-Planck-Wissenschaftler vor kurzem klären konnten, was hinter der seltensten Erkrankung der Welt steckt. Die Ribose-5-Phosphat-Isomerase-Defizienz ist bislang weltweit nur von einem einzigen Patienten bekannt. Er leidet an einer Zerstörung des Hirngewebes, was zu Symptomen wie Gedächtnisverlust, Bewegungsstörungen und unterdurchschnittlichen geistige Leistungen führt. Die Krankheit beruht auf einem genetischen Defekt, der aber selbst mit den High-Tech-Methoden der Genomik nicht analysierbar ist.
Der Patient hat ein vollständig defektes Gen für die Isomerase von seinem Vater geerbt. Dazu kommt ein zweites Gen von seiner Mutter mit einem besonderen Defekt: In manchen Geweben des Körpers führt es zur Produktion des Enzyms, in anderen wie im Gehirn nicht. „Das Enzym ist in verschiedenen Geweben unterschiedlich reguliert“, sagt Markus Ralser. Aus der mRNA konnten die Forscher nur bedingt darauf schließen, ob das Enzym im Gehirn vorhanden ist oder nicht. Erst die Massenspektrometrie brachte Klarheit.
Ähnlich aufschlussreich sind die Ergebnisse der Proteomik in der Krebsforschung im Labor von Hans Lehrach. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der berühmte Biochemiker Otto Warburg den Stoffwechsel von Krebsgewebe untersucht und festgestellt, dass fast alle Zellen eines bösartigen Tumors weniger Sauerstoff als gesunde Zellen verbrauchen. Gleichzeitig geben sie vermehrt Milchsäure an ihre Umgebung ab. Dieses Phänomen ist als „Warburg-Effekt“ bekannt. Inzwischen wissen die Experten auch, dass das Enzym Pyruvatkinase am Umschalten auf den Tumorstoffwechsel beteiligt ist. Nur wie genau? An dieser Frage scheiden sich die Geister.
2008 endlich schien eine Lösung des Problems gefunden zu sein. Zwei Forscherteams hatten entdeckt, dass die Pyruvatkinase in Tumoren und in gesundem Gewebe in unterschiedlichen Varianten vorkommt. Eine Entdeckung mit weitreichender Bedeutung: Könnte man die Tumorvariante in die gesunde Form zurückverwandeln, ließe sich das Krebswachstum möglicherweise verlangsamen oder gar stoppen. Zwei Pharmafirmen waren von dieser Idee begeistert und begannen sie mit einem Milliarden-Euro-Aufwand zu verfolgen.
Nach einer Proteomik-Studie des Lehrach-Teams haben die Unternehmen allerdings ihren Fokus verschoben. Die Wissenschaftler untersuchten gesundes und krankes Gewebe von 50 Nierenkrebs-Patienten. Sie analysierten die jeweilige Variante des Pyruvatkinase-Proteins mittels Massenspektrometrie. Das Ergebnis war eindeutig: Obwohl sich das Gen in gesunden Zelle vom Gen in Krebszellen unterscheidet, kommt in beiden das gleiche Protein vor. „Dies zeigt die große Bedeutung Proteomik für die Medizin“, sagt Ralser.
Seitdem das Team um den Biochemiker die beiden Firmen vor einer Fehlinvestition bewahrt hat, arbeitet er selbst mit den Unternehmen zusammen. Auch Hans Lehrach pflegt Kooperationen mit der Industrie und hat selbst eine neue Firma gegründet, die die Umsetzung seiner Visionen in der Krebsmedizin beschleunigen sollen. Einen weiteren Schub erhofft er sich vom geplanten Kauf eines neuen Massenspektrometers, das auf einen Schlag tausende Proteine samt deren Modifikationen quantitativ bestimmen kann.
Gemeinsam mit dem Krebs-Zentrum der Charité analysiert Lehrachs Team bereits die Gene und Proteine von 20 Patienten mit schwarzem Hautkrebs, dem malignem Melanom. Von jedem Patienten sollen Computermodelle ihrer Krebszellen samt aller individueller molekularer Veränderungen und Besonderheiten entstehen – digitale Tumore sozusagen. Aus allen Informationen zusammen soll der Computer dann die Vorgänge in den Krebszellen mitsamt den Effekten simulieren, den einzelne Wirkstoffe haben. So ließe sich vielleicht ein optimaler Medikamentencocktail mit größtmöglichem Effekt und kleinstmöglichen Nebenwirkungen berechnen. Zudem könnten auf diese Weise neue Medikamente entwickelt werden. „Wir müssen jetzt beweisen, dass unser Ansatz funktioniert“, erklärt Hans Lehrach, „in fünf Jahren wollen wir so weit sein, dass wir das in die medizinische Praxis bekommen.“