Eine Sonnenfinsternis erhellt die Physik
Am 29. Mai 1919 ereignete sich über der Karibik ein Schattenspiel, das Geschichte schreiben sollte: Während der Neumond die gleißend helle Sonnenscheibe bedeckte, maßen Astronomen um Arthur Stanley Eddington die Verschiebung von Sternen, die sich neben dem total verfinsterten Tagesgestirn am dunklen Firmament zeigten. Tatsächlich entsprach das Ergebnis ziemlich genau dem, was Albert Einstein knapp vier Jahre zuvor in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagt hatte. „Wissenschaftliche Revolution“ titelte im November 1919 die Londoner Times. Was steckte hinter dieser Euphorie? Wie kam es zur Bestätigung eines neuen wissenschaftlichen Weltbilds?
Text: Helmut Hornung
Am 25. November 1915 veröffentlichte Albert Einstein einen lediglich dreiseitigen Aufsatz und setzte damit den Schlusspunkt unter ein Ideengebäude, das die Schwerkraft in neuem Licht sah. Bereits in seiner zehn Jahre zuvor entwickelten Speziellen Relativitätstheorie hatte der damals 26-jährige Physiker herausgefunden, dass die gemessene Länge eines Gegenstands sowie die Zeitdauer eines Vorgangs davon abhängen, wie sich der Beobachter relativ zum Geschehen bewegt. Zudem postulierte Einstein als Folge davon die Äquivalenz von Masse und Energie: Beide lassen sich ineinander umwandeln.
Die Spezielle Relativitätstheorie gilt ausschließlich für gleichförmig bewegte Systeme. Jetzt erweiterte Einstein seine Überlegungen auf beschleunigte Bewegungen und bezog die Gravitation mit ein. Er fasste Raum und Zeit zur vierdimensionalen, gekrümmten Raumzeit zusammen und folgerte, dass Schwerkraft die Geometrie dieser Raumzeit bestimmt.
Ein Beispiel soll die entscheidende Aussage der Allgemeinen Relativitätstheorie verdeutlichen: Stellen wir uns eine nicht allzu feste Matratze vor. Legen wir eine Bowlingkugel auf die Matratze, dellt sie diese tief ein. Lassen wir nun eine Murmel an dieser Delle vorbeilaufen, wird sie sich nicht geradlinig weiterbewegen, sondern am Rand der Delle eine Kurve beschreiben. Haben wir der Murmel nicht genügend Schwung mitgegeben, wird sie in Richtung Bowlingkugel laufen und schließlich in der Mulde liegenbleiben.
Jetzt übertragen wir das Experiment auf das Universum: Die Matratze ist die Raumzeit, die Bowlingkugel unsere Sonne und die Murmel ein Planet. Nach Einstein werden die Planeten nicht von der Sonne angezogen, sondern sie bewegen sich vielmehr entlang der Krümmung, welche die von der gewaltigen Sonnenmasse eingedellte Raumzeit hervorruft.
Albert Einstein selbst erkannte schon recht früh, dass derart gekrümmte Bahnen nicht nur für Planeten oder große bewegte Himmelskörper gelten. Auch Lichtstrahlen sollten in einem Gravitationsfeld auf krummen Wegen laufen. Dabei war Einstein keineswegs der erste, der sich fragte, wie Licht auf große Massen reagiert. Im Jahr 1783 behauptete der englische Gelehrte und Geistliche John Mitchell, dass Licht – Isaac Newton zufolge sollte es aus winzigen Teilchen bestehen – nicht immer geradlinig läuft, sondern von der Schwerkraft eines Körpers abgelenkt werden kann.
Mitchell ging noch einen Schritt weiter. Er beschrieb einen Riesenstern, dessen Gravitation so groß sein sollte, dass die von dem Stern ausgesandten Lichtteilchen wieder auf seine Oberfläche zurückfallen würden. Damit beschrieb der Naturphilosoph letztendlich ein Objekt, das wir heute als schwarzes Loch bezeichnen.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts postulierte der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace unabhängig von Mitchell ebenfalls Körper, deren Anziehungskraft so stark sein sollte, dass von ihren Oberflächen kein Licht entweichen könnte. Laplace berechnete ein solches Objekt und fand, dass die gesamte Masse der Sonne auf eine Kugel mit sechs Kilometern Durchmesser zusammengepfercht sein müsste.
Im Jahr 1801 schließlich veröffentlichte Johann Georg von Soldner, der spätere Direktor der Münchener Sternwarte in Bogenhausen, einen Aufsatz unter dem Titel „Die Ablenkung eines Lichtstrahls von einer geradlinigen Bewegung durch die Attraktion eines Weltkörpers, an welchem er nahe vorbei geht“. Von Soldner kalkulierte, um wieviel sich die scheinbare Position eines fernen Sterns am Himmel verschieben würde, liefe sein Licht nah an der Sonne vorüber. Er kam auf einen Wert von 0,875 Bogensekunden – unter diesem Winkel erscheint eine 1-Euro-Münze aus fünf Kilometern Entfernung.
Albert Einstein kannte zwar die Überlegungen des Münchener Astronomen nicht, beschäftigte sich um 1911 jedoch ebenfalls mit dem Problem der Lichtablenkung durch die Sonne. Tatsächlich ergaben seine Berechnungen einen Wert von 0,83 Bogensekunden – sehr nahe an dem, was von Soldner herausgefunden hatte. Einstein schlug vor, die Theorie an der Praxis zu prüfen, das heißt, während einer totalen Sonnenfinsternis die vermeintliche Abweichung zu messen.
Das nächste derartige Schauspiel ereignete sich im Jahr 1912 über Brasilien, fiel aber wegen des Wetters buchstäblich ins Wasser. Die Verfinsterung am 21. August 1914 fand drei Wochen nach Beginn des Erstens Weltkriegs über Russland statt. Während eine deutsche Expedition unter Leitung von Erwin Freundlich von den Russen gefangen genommen und interniert wurde, erlebten amerikanische Astronomen um William Campbell südlich von Kiew statt des Naturschauspiels einen bedeckten Himmel.
So wurde es nichts mit den Messungen – deren Ergebnisse Einstein im Übrigen sicher nicht gefallen hätten. Denn als er in den folgenden Jahren seine Arbeiten zur Allgemeinen Relativitätstheorie weiter vorangetrieben hatte, fand er den oben beschriebenen Zusammenhang zwischen Schwerkraft und Raumkrümmung. Dies sollte einen Effekt bewirken, den man zu der reinen Ablenkung durch die Schwerkraft addieren musste. Kurz: Die Verschiebung einer Sternposition am Sonnenrand verdoppelte sich auf 1,75 Bogensekunden. Einstein veröffentlichte diesen Wert im Rahmen seines Aufsatzes „Die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie“, der im Mai 1916 in den Annalen der Physik erschien.
So warteten die Wissenschaftler auf die nächste Gelegenheit, die Vorhersage zu überprüfen. Sollte sie stimmen, hätte die neue Theorie mit Bravour ihren ersten Test bestanden. Die Gelegenheit bot sich am 29. Mai 1919. Als ideale Beobachtungsorte ermittelten Astronomen die Insel Principe vor der Küste Spanisch-Guineas sowie das Dorf Sobral im Norden Brasiliens.
Bemerkenswert: Es waren englische Forscher, die noch während des Weltkriegs zwei Expeditionen vorbereiteten, um die Theorie eines deutschen Professors zu bestätigen. Albert Einstein war auf Betreiben von Max Planck seit 1917 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik, wobei das neue Institut zunächst nur aus seinem Arbeitszimmer in einer Dachstube über Einsteins Wohnung in Berlin-Schöneberg bestand. Bereits fünf Jahre später, im Oktober 1922, verließ Einstein wegen Morddrohungen Deutschland und übertrug sein Direktorenamt auf Max von Laue.
Ein halbes Jahr vor der totalen Sonnenfinsternis fotografierten die Astronomen jene Himmelsregion, in der das verdunkelte Tagesgestirn am 29. Mai 1919 zu beobachten wäre. Als Glücksfall erwies sich, dass die Sonne dann im hell leuchtenden Sternhaufen der Hyaden stehen würde und sich die einzelnen Sterne in Sonnennähe deutlich zeigen sollten. Dennoch erwartete die Wissenschaftler eine diffizile Aufgabe.
Die berechneten 1,75 Bogensekunden gelten nämlich nur für den Fall, dass ein Stern direkt am Sonnenrand steht. In zwei Sonnenradien Abstand schrumpft der Winkel auf 0,6 Bogensekunden. Selbst eine Verschiebung um eine Bogensekunde bildet das bei der Expedition auf die Insel Principe verwendete Teleskop als Strecke von lediglich 0,026 Millimeter auf der gläsernen Fotoplatte ab! Zudem verzerrt die ständig vorhandene Luftunruhe die Sternbildchen, und die Brechung in der Atmosphäre tut ein Übriges.
Am 8. März 1919 starteten von England zwei Expeditionen, eine führte auf die Insel Principe, die andere nach Sobral. Arthur Eddington, berühmter Wissenschaftler und Sekretät der Royal Astronomical Society, koordinierte die beiden Teams. Eddington selbst hatte am Tag der Finsternis sein Lager in einer Kokosplantage auf Principe eingerichtet – und dort begann es am Morgen heftig zu regnen. Erst gegen Mittag, während der Verfinsterung, riss die Wolkendecke immer wieder für einige Sekunden auf. 16 Aufnahmen gewannen die Astronomen, nur zwei waren brauchbar. Mehr Glück hatten die Forscher um Andrew Crommelin in Sobral; ihnen gelangen acht geeignete Fotos.
Zurück in England, wertete Eddington die Platten aus und verkündete auf einer Tagung in Bournemouth Anfang September 1919 das vorläufige Resultat. Am 6. November legte Crommelin in einer gemeinsamen Sitzung von Royal Society und Royal Astronomical Society das endgültige Ergebnis vor: Die Abweichung am Sonnenrand betrug bei dem einen Teleskop 1,98 +/- 0,18 Bogensekunden, bei dem anderen 1,60 +/- 0,31 Bogensekunden.
Weil es immer wieder Zweifel an der Richtigkeit dieser Werte gab, wurden Eddingtons Fotoplatten im Jahr 1979 am Royal Greenwich Observatory mit modernen Geräten erneut vermessen. Resultat: 1,90 +/- 0,11 Bogensekunden. Die Allgemeine Relativitätstheorie hatte ihren ersten Test brillant bestanden!
Am 7. November 1919 überschrieb die Londoner Times einen Artikel mit den Worten „Wissenschaftliche Revolution. Neue Theorie des Universums. Newtons Vorstellung gestürzt“. Und die New York Times schrieb ebenfalls auf der Titelseite am 10. November: „Lichter am Himmel alle schief“. So sehr sich das Ausland über diese Entdeckung begeistert zeigte, so sehr hielten sich die Medien in Deutschland zurück. Erst am 14. Dezember 1919 brachte die Berliner Illustrirte Zeitung ein Foto Einsteins und einen Artikel mit der Überschrift: „Eine neue Größe der Weltgeschichte: Albert Einstein, dessen Forschungen eine völlige Umwälzung unserer Naturbetrachtung bedeuten und den Erkenntnissen eines Kopernikus, Kepler und Newton gleichwertig sind.“
Dem Physiker, über Nacht berühmt geworden, war der Rummel um seine Person lästig. Angeblich träumte er von einem Briefträger, der ihm – in Gestalt eines Teufels – ständig neue Briefe bringt, obwohl er die alten noch nicht beantwortet hat. Und an seinen Kollegen Max Born schrieb er: „Bei mir ist es so arg, dass ich kaum mehr schnaufen, geschweige zu vernünftiger Arbeit kommen kann.“