Wegweiser im digitalen Dschungel
Was bedeutet das digitale Zeitalter für Bibliotheken? Sie verändern sich radikal, und dennoch: Niemand, der die Geschichte der Menschheit, der Kultur und der Naturwissenschaften verstehen will, kann auf das publizierte Wort, auf Bild-, Hör- und Videomaterial verzichten, die systematisch gesammelt und aufbereitet werden. Davon zeugen die Bibliotheken und Sammlungen an Max-Planck-Instituten.
Text: Barbara Abrell
Forschungsbibliotheken, zumal die mit geisteswissenschaftlicher Ausrichtung, sind auch im digitalen Zeitalter häufig noch reale Räume mit einem physischen Bestand, der den Forschenden Orientierung bietet, sie inspiriert und zum intellektuellen Diskurs einlädt.
Dafür steht die renommierte Bibliothek des Kunsthistorischen Institutes in Florenz (KHI), die am 21. Oktober 2024, 127 Jahre nach der Institutsgründung, ihre Fläche für Medien durch die Eröffnung eines neuen Gebäudes erweitern konnte. Sie vernetzt sich mit der Photothek, die ebenfalls eine neues Zuhause gefunden hat. Mit 630.000 Fotografien vorwiegend zur italienischen Kunst gilt sie als führendes Zentrum der internationalen Archiv- und Fotografie-Forschung. Die physischen Bestände, Bücher und Fotografien, werden mit digitalen Ressourcen und Werkzeugen analysiert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die digitalen Techniken ermöglichen es Bibliotheken und Archiven ihre Bestände zu öffnen und Netzwerke zu bilden, und machen sie darüber hinaus zum Gegenstand eigener Forschung.
Die Bibliotheca Hertziana, das Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom, ist ebenfalls eine bedeutende Quelle für die kunst- und kulturwissenschaftliche Forschung: Sie besitzt unter anderem einen einzigartigen Bestand an Reiseführern über Rom, die dokumentieren, wie sich die Stadt über die Jahrhunderte verändert hat. Kunsthistorikerinnen und -historiker weltweit können den digitalisierten Bestand in der Datenbank Schudt Online recherchieren. Der erste Bibliotheksdirektor, Ludwig Schudt, hatte die Sammlung dieser Literatur begonnen und selbst das Werk, Le Guide di Roma, im Jahr 1930 publiziert.
Bibliotheken als Treffpunkt
Ganz anders präsentiert sich die Eberhard-Zeidler-Bibliothek des Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften – eine der führenden, mathematischen Bibliotheken mit einem hervorragenden analogen und digitalen Bestand. Das Bibliotheksteam unterstützt die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur umfassend bei der Informationsbeschaffung, sondern auch im Publikationsprozess – mit besonderem Augenmerk auf Open Access.
Die Bibliothek ist zudem ein wichtiger Treffpunkt für den wissenschaftlichen und sozialen Austausch der Forschenden, sowie Mitarbeitenden und Gäste des Instituts. So bietet beispielsweise der wöchentlich stattfindende Treff eine ausgezeichnete Gelegenheit zur lockeren Diskussion in entspannter Atmosphäre. Mit viel Liebe zum Detail entstehen wechselnde Ausstellungen zu herausragenden Mathematikerinnen und Mathematikern oder bedeutenden wissenschaftlichen Auszeichnungen, die dann im Lesesaal gezeigt werden.
Elektronisches für Experten
Zusätzlich zu erlesenen Werken und Gebrauchsliteratur sammeln die Archive und Bibliotheken der Max-Planck-Gesellschaft auch Bild-, Hör- und Videomaterial. FACES beispielsweise, eine Datenbank für die psychologische Forschung, beinhaltet Fotos und Videos von Gesichtern, von Männern und Frauen unterschiedlichsten Alters mit Gesichtsausdrücken, die sechs Emotionen widerspiegeln. Sie wurden von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Rahmen eines aufwändigen Projekts erstellt und von der Max Planck Digital Library gemeinsam mit der Bibliothek am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in eine Datenbank eingespielt. Dort stehen sie nun interessierten Forschenden aus aller Welt und mit ganz unterschiedlichem fachlichen Hintergrund für die eigene Forschung zur Verfügung.
Dies sind nur wenige Beispiele, die zeigen, welche Aufgaben moderne Bibliotheken heute zu bewältigen haben – und wie sich die Ansprüche an Bibliothekarinnen und Bibliothekare wandeln. „Weil Forschungsfragen immer spezieller werden, weil sich die Wissenschaftsdisziplinen immer feiner verästeln und weil die wissenschaftliche Literaturproduktion stark wächst, bedarf es besonderer Expertise, um den wissenschaftlichen Informationsdschungel zu durchdringen“, schreiben Sebastian Nix, Bibliotheksleiter am MPI für Bildungsforschung, und Kerstin Schoof, die die Bibliothek am MPI für empirische Ästhetik leitet, in ihrem Aufsatz „Spitzenservice für Experten: Spezialbibliotheken im digitalen Zeitalter“.
Scouts im Informationsdschungel
Claudia Holland, die am Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht ein Bibliotheks-Team von 20 Mitarbeitenden leitet, ist Mitglied im Sprecherkreis der Max-Planck-Bibliotheken. Sie zählt neben dem Ansatz, Wissen für alle verfügbar zu machen (Open Access) vor allem das Forschungsdatenmanagement und die zeitgemäße Art und Weise der Präsentation von Daten zu den primären Aufgaben von Bibliotheken.
Ihre Bibliothek gehört unter den 75 Bibliotheken der Max-Planck-Gesellschaft zu den größten. Spezialbibliotheken wie die ihre in Hamburg bilden mit rund 2.500 Einrichtungen zugleich eine besonders heterogene Gruppe unter den wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland. Dazu gehören „One Person Libraries“ mit wenigen 1.000 Medien wie auch Einrichtungen mit Millionen von Medien und einer zwei- oder sogar dreistelligen Zahl von Mitarbeitenden.
Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind Bibliotheken mit ihrem großen Bestand an Büchern, nicht nur in gedruckter Form, wie die Labore in den Naturwissenschaften (siehe Interview mit Peter Weber „Die Bibliothek – ein Labor“). Ohne sie ist Forschung nicht möglich. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können die Geschichte der Menschheit, von politischen Systemen und Rechtsordnungen nicht erzählen, ohne immer wieder zur Originalquelle zurückzukehren. Jedes Buch verweist auf ein anderes, so wie jeder Gedanke auf einem anderen aufbaut.
Obwohl die Lesesäle und Gruppenarbeitsräume der wissenschaftlichen Bibliotheken noch sehr gut besucht sind, scheint ihre Aufgabe in Zeiten des Internets immer unklarer zu werden: Vor allem in den Naturwissenschaften – und hier vor allem in der Biologie und Medizin – fragt man sich zunehmend: Ist das Wichtigste nicht schon im Netz verfügbar? Welche Funktion hat die Bibliothek noch? Ist sie ein Lernort, ein Zentrum, das der Informationsbeschaffung dient, oder lediglich sozialer Treffpunkt?
Oasen des Wissens
Michael Knoche, der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, hat ein nachdenkliches Buch über die Oasen des Wissens geschrieben. „Die Idee der Bibliothek und ihrer Zukunft“ heißt es. Es handelt davon, dass wissenschaftliche Bibliotheken eine Hauptaufgabe haben: die Verantwortung für die Verfügbarkeit des Wissens. Nach Michael Knoche geben Bibliotheken Auskunft über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis. Dazu müssen sie viel enger zusammenwirken als früher, denn die umfassende Erfüllung der sich stetig erweiternden Aufgaben von Bibliotheken funktioniert nur noch im Zusammenspiel.
Das haben die Max-Planck-Bibliotheken schon früh erkannt. Sie wählen aus ihren Reihen deshalb alle zwei Jahre einen Sprecherkreis von fünf Personen. Die Ehrenamtlichen organisieren regelmäßige Treffen, halten Kontakte zu anderen universitären und außeruniversitären Bibliotheken und zur Max Planck Digital Library. Dabei spricht man über Themen, die bibliotheksübergreifend diskutiert werden müssen. Das ist angesichts der großen Veränderungen des wissenschaftlichen Forschens und Publizierens heute notwendiger denn je, weil die digitale Transformation nur gemeinsam und durch eine systematische Kooperation zu bewältigen ist.
Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung
Dazu zählt auch die Sicherung digitaler Daten. Denn während viele die Macht des Buches unterschätzen, überschätzen sie die Langlebigkeit digitaler Daten. Papier ist nämlich geduldig, Bits und Bytes sind es nicht. Deshalb müssen in Zeiten, in denen immer mehr digital publiziert wird, Daten auf digitalen Plattformen aktiv gesichert und zugänglich gemacht werden. Dieser noch zu lösenden Zukunftsaufgabe müssen sich alle Bibliotheken gemeinsam stellen.
Wesentlich weiter sind Bibliotheken schon jetzt, wenn es darum geht, Forschende beim digitalen Publizieren zu unterstützen. Weil öffentlich finanzierte Forschung frei verfügbar und möglichst vielfältig nutzbar sein soll, gilt dies besonders für das Publizieren von wissenschaftlichen Daten und Texten in Open Access, das „urheberrechtliches Know-how genauso voraussetzt wie fundierte Kenntnisse fachspezifischer Publikationsbedingungen“, so Sebastian Nix und Kerstin Schoof. Nur so könnten diese wichtigen "Rohstoffe" wissenschaftlicher Arbeit, die heute unter anderem mit Methoden von Text- und Data-Mining in ganz neuer Weise nutzbar sind, auch in Zukunft einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Dazu können Bibliotheken mit ihrer jahrhundertealten Expertise in der Aufbereitung und Verbreitung wissenschaftlicher Information ganz wesentlich beitragen.
Anmerkung: Der Artikel wurde bereits 2018 publiziert und seitdem in regelmäßigen Abständen aktualisiert.