Wir Kulturmenschen
Wie Menschen handeln und denken, hängt vielfach von ihrer gesellschaftlichen Prägung ab. Daher variieren Verhaltensweisen rund um den Globus zum Teil enorm. Der Psychologe Daniel Haun, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hat die kulturelle Vielfalt zu einem Schwerpunkt seiner Forschung gemacht. Seine Idee: Nur wenn wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten kennen, können wir letztlich die Eigenschaften bestimmen, die uns als Menschen ausmachen.
Text: Stefanie Reinberger
Wer mehr leistet, sahnt am Ende auch mehr von der wohlverdienten Belohnung ab. So ist es gerecht, oder? Das sehen bereits Dreijährige so – zumindest in unseren Breiten. Sie weisen Gewinne nach Leistung zu und teilen auch lieber mit Spielkameraden, die sich mehr eingebracht haben. Das haben verschiedene Untersuchungen immer und immer wieder bestätigt. Wenn Ihnen das Resultat dieser Studien nun gar zu logisch vorkommt, sind Sie vermutlich aus Deutschland. Oder Sie sind zumindest Mitglied einer Industriegesellschaft. Doch was uns selbstverständlich erscheint, muss für Menschen in anderen Teilen der Welt noch lange nicht gelten.
Die Kultur beeinflusst Wahrnehmung und Handeln. Und nach allem, was wir wissen, ist die ausgeprägte und facettenreiche Kultur des Homo sapiens einzigartig im Vergleich zu anderen Spezies. Doch was befähigt den Menschen dazu, eine derartige kulturelle Vielfalt überhaupt zu entwickeln? Welches sind die Grundfesten der menschlichen Kognition, die uns von anderen Arten unterscheiden und uns zu Menschen machen? Das sind die großen Fragen, die den Leipziger Max-Planck-Direktor Daniel Haun beschäftigen und denen er mit seiner 2019 gegründeten Abteilung für vergleichende Kulturpsychologie nachgeht.
„In verschiedenen Kulturen nehmen Menschen soziale Beziehungen, soziale Emotionen, Farbe, Zahl oder Raum auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen wahr“, sagt der Psychologe. „Es ist beeindruckend, auf Gruppen von Menschen zu treffen, die Dinge sehen, die man selbst nicht sieht, sich Dinge merken, die man sich selbst nicht merken kann, oder die regelmäßig Dinge tun, die man selbst nicht tun würde."
Die Kultur prägt, was als gerecht gilt
Wie unterschiedlich ausgeprägt das Verhalten in bestimmten Situationen sein kann, beobachtete ein Forschungsteam aus mehreren Max-Planck-Instituten und der Universität Jena in einer Studie ganz eindrücklich. Sie hatten Kinder im Alter von vier bis elf Jahren gebeten, in einem Angelspiel nach Klötzchen zu fischen; immer zwei Kinder angelten aus zwei verschiedenen Behältern. Dabei waren die magnetischen Würfel eines Kindes manipuliert, sodass es einen Teil der „Fische“ einfach nicht herausziehen konnte. Anschließend erhielten die beiden kleine Belohnungen entsprechend der Anzahl der gemeinsam gefischten Klötzchen und durften diese unter sich aufteilen. Erwartungsgemäß teilten die deutschen Kinder akribisch nach Leistung: Jeder bekam so viele Belohnungen wie er Klötzchen gefischt hatte. Punkt.
Auch junge Mitglieder der ≠Akhoe Hai//om, einer egalitären Sammlergesellschaft in Namibia, belohnten die bessere Leistung. Allerdings bei weitem nicht so deutlich wie Gleichaltrige in Deutschland. Vielmehr verteilten sie die Beute annähernd gleichmäßig. Und das erfolgreichere Kind bekam eben ein Klötzchen mehr. Verblüfft waren die Forscher allerdings davon, wie die dritte Gruppe vorging – kenianische Kinder vom Volk der Samburu, einer Gesellschaft mit strikter Altershierarchie. „Die Kinder wählten die unterschiedlichsten Verteilungsmodelle, bis hin zu einer Variante, bei der der erfolgreichere Angler quasi leer ausging“, sagt Daniel Haun, der an der Studie beteiligt war. „Die möglichen Prinzipien dahinter waren für uns überhaupt nicht nachvollziehbar.“ Ein wichtiges Fazit: Auch das Gerechtigkeitsempfinden wird durch unsere Kultur geprägt.
Ein anderes Beispiel, fast noch frappierender: die Müller-Lyer-Illusion, eine bekannte optische Täuschung. Dabei handelt es sich um Linien, die von Pfeilspitzen in Form offener Winkel begrenzt werden. Die Spitzen zeigen dabei mal nach innen und mal nach außen. Je nachdem, wie sie angeordnet sind, sehen wir die Linien unweigerlich als länger oder kürzer – obwohl sie eigentlich gleich lang sind. Das optische Phänomen funktioniert allerdings nicht überall auf der Welt. „Bereits in den 1960er-Jahren stellte sich heraus, dass es über den ganzen Globus verteilt Gesellschaften gibt, in denen die Menschen die Linien als gleich lang sehen, wenn sie gleich lang sind – uns ist das unmöglich“, sagt Haun.
Beide Beispiele unterstreichen: Wie sich unsere kognitive Leistung ausdrückt, hängt stark von der Umgebung ab, in der wir leben – insbesondere von der Gesellschaft und ihrer Kultur. „Da muss man sich dann schon die Frage stellen, welche allgemeine Aussagekraft psychologische Untersuchungen haben, die mit amerikanischen Psychologie-Studierenden durchgeführt wurden, oder entwicklungspsychologische Studien, die ausschließlich europäische Babys und Kleinkinder beobachten“, sagt Haun. Allgemeingültige Aussagen über die Wahrnehmung und das Denken des Menschen lassen sich auf dieser Ebene jedenfalls nicht treffen.
Ähnlichkeiten beim sozialen Lernen
Doch Haun geht es nicht darum, die bisherige psychologische Forschung an den Pranger zu stellen. Für ihn sind die kulturellen Unterschiede vor allem ein Schlüssel zur Beantwortung seiner Forschungsfragen. „Um zu verstehen, was den Menschen dazu befähigt, kulturelle Vielfalt überhaupt zu entwickeln, müssen wir die zugrunde liegenden relevanten Entwicklungsprozesse verstehen, aus denen heraus kulturelle Variation entsteht. Diese vergleichen wir mit der Entwicklung anderer Arten und suchen so nach Erklärungen für die Entstehung der einzigartig menschlichen kulturellen Evolution.“
Dabei genügt es nicht, Menschen aus verschiedenen Kulturen zu vergleichen. Auch das Alter der Probanden spielt eine Rolle oder die demografische Zusammensetzung der Population. „Soziales Lernen hängt beispielsweise stark vom Alter ab“, sagt Haun. Gemeint ist eine Form des Lernens, bei der man andere dabei beobachtet, wie sie bestimmte Handlungen durchführen. Diese Herangehensweise ist über alle menschlichen Kulturen hinweg verbreitet.
Doch orientieren sich Kinder überall auf dem Planeten gleichermaßen an anderen? Und nach welchen Kriterien wählen sie ihre Vorbilder? Dieser Frage ging Haun gemeinsam mit einem internationalen Team nach. Beteiligt waren Kinder aus sieben unterschiedlichen kulturellen Gruppen: Kinder aus Deutschland, Brasilien und Indonesien sowie aus den Volksgruppen der BaAka in der Zentralafrikanischen Republik, der ≠Akhoe Hai//om in Namibia, der Samburu in Kenia und der Bemba in Sambia. Im Zentrum der Untersuchung stand ein simpler Automat: ein Kasten mit drei verschiedenfarbigen Röhren. Steckt man einen Ball in eine der Röhren, fällt unten ein kleines Spielzeug heraus. Nun durften die Kinder im Alter von 4 bis 14 Jahren Videos anschauen, in denen Gleichaltrige vorführten, wie der Kasten funktioniert. Dabei zeigten jeweils drei Kinder den Ablauf mit einer einzelnen Röhre. Anschließend führte ein weiteres Kind dreimal hintereinander das Prozedere bei einer anderen Röhre vor. Das Ergebnis war immer gleich: Für jeden eingeworfenen Ball spuckt der Automat eine Belohnung aus. Anschließend bekamen die zuschauenden Kinder selbst einen Ball in die Hand gedrückt und hatten nun genau einen Versuch, um ebenfalls ein Spielzeug zu ergattern.
Wie stark sich die Kinder an den Vorbildern im Film orientierten, war je nach kulturellem Hintergrund sehr unterschiedlich. Aber es zeigten sich auch spannende Gemeinsamkeiten: „Obwohl die kulturelle Variation insgesamt hoch war, veränderte sich über alle Kulturen hinweg gleichermaßen mit dem Alter, wie deutlich die Kinder dazu neigten, sich der Mehrheit anzuschließen“, sagt Haun. Insgesamt ahmten sowohl die jüngsten als auch die ältesten Kinder in allen Gruppen am häufigsten das Verhalten der drei Vorbilder nach – statt der wiederholten Vorführung des einzelnen Kindes zu folgen.
Vergleiche zwischen Menschen und Menschenaffen
„Uns zeigen solche Ergebnisse auch, wie wichtig es ist, nicht nur einzelne Kinder in verschiedenen Situationen oder bei bestimmten Aufgaben zu beobachten“, sagt der Max-Planck-Wissenschaftler. „Eigentlich brauchen wir langfristige Entwicklungsstudien: von der Geburt bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter.“ So komme man zu verlässlichen Daten, die eine Aussage darüber erlauben, welche kulturellen Faktoren welche Entwicklungsprozesse beeinflussen – und bei welchen Entwicklungsprozessen es keine Variationen gibt.
Und das alles gilt letztlich nicht nur für Studien mit Menschen. Denn um herauszufinden, welche kognitiven Fähigkeiten und Verhaltensweisen einzigartig menschlich sind, gilt es auch, den Vergleich zu unseren nächsten Verwandten zu ziehen, zu Schimpansen und anderen Menschenaffen. Auch hier variiert das Verhalten zwischen unterschiedlichen Gruppen. „Das ist nicht so stark ausgeprägt wie beim Menschen, und das Ausmaß der Variation hängt zudem stark von der Zusammensetzung der Population ab“, sagt Haun. „Aber sicher ist, Schimpanse ist nicht gleich Schimpanse – da müssen wir sehr genau hinsehen, wenn wir das Verhalten und die kognitiven Fähigkeiten von nichthumanen Primaten und Menschen vergleichen.“
"Die Globalisierung verwischt die Unterschiede zwischen Kulturen"
Hauns Forschungsvorhaben erfordert unzählige Verhaltensstudien, Beobachtungen in vielfältigen menschlichen Kulturen und in diversen Affengruppen – mit möglichst großer Probandenzahl und im Idealfall über lange Zeiträume hinweg. Es ist mehr als deutlich, dass all das nicht in eine einzige Forscherkarriere passen wird. Und es gibt noch eine Schwierigkeit: „Uns läuft die Zeit davon“, sagt Haun. „Die zunehmende Globalisierung verwischt die Unterschiede zwischen den Kulturen und gleichzeitig sterben nichtmenschliche Primaten aus, weil ihr Lebensraum verloren geht.“ Je geringer die Variabilität auf dem Planeten, desto schwerer wird es, die Gemeinsamkeiten herauszufiltern – die Essenz des menschlichen Seins. „Da können vielleicht noch zwei oder drei Forschergenerationen etwas bewegen, danach ist es möglicherweise zu spät.“
Die aktuelle Corona-Krise macht das nicht besser. „Feldforschung ist unter den Bedingungen dieser Pandemie kaum möglich“, sagt Haun. Es ist unübersehbar, dass ihm angesichts dieser Tatsache das Herz blutet – wo es draußen in der Welt so viele spannende Kulturen gibt und er so vielen interessanten Fragen nachgehen möchte. Zu tun hat der Max-Planck-Direktor trotzdem genug. Er nutzt die Zeit, um neue Methoden zu etablieren. Künstliche Intelligenz und Machine Learning sind ein wichtiges Thema für den Psychologen. Beides soll in Zukunft helfen, psychologische Studien automatisiert auszuwerten, um höhere Probandenzahlen untersuchen zu können, vielleicht sogar im normalen Alltag jenseits von Aufgabenstellungen unter Studienbedingungen. Eine hohe Probandenzahl ist entscheidend, um letztlich den Zusammenhang zwischen der individueller Entwicklung sowie dem sozialen Umfeld und den geographischen Gegebenheiten bei Menschen und Menschenaffen zu verstehen.
Trotz aller Widrigkeiten bleibt Hauns Team am Ball, um Kontakte zu knüpfen und in verschiedenen Teilen der Welt Forschungsstationen aufzubauen, die stabil und über einen langen Zeitraum an seine Abteilung gekoppelt sind – eine wichtige Voraussetzung, um kontinuierlich und über längere Zeiträume mit bestimmten kulturellen Gruppen zu arbeiten. Dabei ist es den Leipziger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch wichtig, mit Einheimischen eng zusammenzuarbeiten, denen Sprache, Kultur und Umgangsformen vor Ort geläufig sind. „Die Kooperation mit den Menschen vor Ort ist für das Gelingen dieses Projektes essenziell. Nur so können wir sicherstellen, dass Studien gleichzeitig kulturell angemessen und interkulturell vergleichbar sind.“
Es geht nicht darum zu werten
Außerdem engagiert sich das Team im ManyPrimates Project, einem wissenschaftlichen Zusammenschluss zur Erforschung von Menschenaffen, um so ein verlässliches Netzwerk von Zoos und Auffangstationen zu schaffen. „Die Zeiten, in denen einzelne Gruppen für sich forschen, sind vorbei – Wissenschaft ist ein Teamsport. Gerade für unseren Forschungsbereich ist Zusammenarbeit mit anderen Forschenden entscheidend“, sagt Haun. In diesem Sinne will er künftig auch andere psychologisch forschende Gruppen einladen, ihre Fragestellungen gemeinsam mit seinem Team vor dem Hintergrund der vergleichenden Kulturpsychologie zu beleuchten. „Wir haben als Max-Planck-Forscher eine ganz besondere Verantwortung, einen Mehrwert für die wissenschaftliche Community zu schaffen“, so die Überzeugung des Psychologen.
Verantwortung übernimmt er auch an anderer Stelle. Denn eines ist ihm besonders wichtig: „Wenn wir kognitive Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen untersuchen, darf es niemals darum gehen zu bewerten“. Da sei in der Vergangenheit vieles für politische Zwecke missbraucht worden. Für Haun steht fest: Kognitive Fähigkeiten von Menschen drücken sich unterschiedlich aus, sie mögen faszinierend anders sein, überraschend, manchmal aus unserer Perspektive absolut nicht nachvollziehbar – aber immer sind sie von den Einflüssen und Anforderungen des individuellen Lebensumfelds geprägt. Besser oder schlechter gibt es da nicht.
Auf den Punkt gebracht
- Die Kultur, in der wir leben, prägt nicht nur Werte oder Vorlieben, sondern auch grundlegende Wesenszüge wie das Gerechtigkeitsempfinden und die optische Wahrnehmung.
- Forschende arbeiten daran, mithilfe psychologischer Tests in verschiedenen Kulturen und Altersstufen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu dokumentieren.
- Zusätzlich sind Vergleiche mit dem Verhalten von Menschenaffen nötig, um abzugrenzen, was tatsächlich spezifisch menschlich ist.