Ein Kunststoff nach Muschelart
Ein Polymer aus dem Labor besitzt ähnliche Eigenschaften wie ein Muschelprotein, weil es auf dieselbe Weise vernetzt ist
Ein einzigartiger Stoff der Natur dient nun als Vorbild für ein künstlich hergestelltes Material. Wissenschaftler aus den USA haben im Labor ein besonders dehnbares und festes Muschelprotein, das sich zudem selbst heilt, nachgeahmt. Das Protein schützt die Byssusfäden, mit denen Muscheln sich am Boden festhalten. Wie Wissenschaftler um Matt Harrington am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung zuvor herausgefunden hatten, vernetzen Eisenatome das Protein und geben ihm so seine besonderen Eigenschaften. Jetzt hat Harrington nachgewiesen, dass auch das künstlich hergestellte Polymer über Eisenbrücken vernetzt und damit abriebfest und dehnbar gemacht werden kann. Synthetische Polymere nach dem Vorbild des Muschelproteins könnten sich als neue Klebstoffe in der Unterwassertechnik und der Medizin eignen.
Ob Glasschwamm, Spinnen- oder Muschelseide – unzählige Materialien aus der Natur sind für technische Anwendungen interessant. Chemiker können sie bislang aber oft nicht nachahmen. Zumindest für das besonders dehnbare und feste Protein aus der Schutzhülle der Muschelseide ist das einem internationalen Forscherteam aber nun gelungen. Chemiker der Universitäten Chicago und Santa Barbara haben gemeinsam mit Matthew Harrington des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung ein Polymer hergestellt, das dem Protein im Mantel der Muschelseide ähnelt.
Muscheln heften sich mithilfe von Muschelseide (Byssus) am felsigen Untergrund fest und trotzen so den anbrandenden Wellen in der Gezeitenzone. „Die Schutzschicht der Muschelseide ist besonders fest und dehnbar“, sagt der Biologe Matthew Harrington, „das sind zwei Eigenschaften, die in künstlich hergestellten Materialien nur schwer zu vereinen sind.“ Welche chemischen Struktureigenschaften der Byssushülle ihre enorme Stabilität und Flexibilität geben, hatten Wissenschaftler um Harrington im vergangenen Jahr aufgedeckt.
Die Forscher aus Potsdam enthüllten, dass die Außenhaut aus einem Proteinnetz besteht, welches durch Komplexe aus Eisenmolekülen und L-DOPA, einer veränderten Form der Aminosäure Tyrosin, stabilisiert wird. Ein einziges Eisen-Ion kann an bis zu drei DOPA-Moleküle binden, so dass ein äußerst stabiler Metallproteinkomplex entsteht. Eine solche Bindung aufzubrechen, ist schwer und kostet fast soviel Energie wie eine kovalente Bindung zwischen zwei Atomen. Die Metall-DOPA-Bindung ist ähnlich stabil, hat aber einen entscheidenden Vorteil: Im Gegensatz zur Atombindung kann sie sich spontan wieder bilden, nachdem sie gebrochen ist. So könnten winzige Risse in der Hülle von selbst heilen, wie die Forscher vermuten. Solche Risse entstehen etwa, wenn der Byssus überdehnt wird. Sie nehmen einen Teil der Dehnungsenergie auf, so dass der Faden nicht komplett abreißt.
Harringtons Partnern aus Chicago und Santa Barbara gelang es jetzt, ein Polymer auf die gleiche Weise zu vernetzen wie es Muscheln tun. Das neue Material verhält sich ähnlich wie sein natürliches Vorbild. So kann es sich etwa selbst heilen. Durchschneiden die Forscher das Gel verbinden sich die beiden Teile binnen weniger Minuten wieder.
Die Konsistenz des Stoffes können die Chemiker kontrollieren, indem sie schlicht den pH-Wert verändern. Bei einem leicht sauren pH-Wert von etwa 5 ist das Material flüssig, während es sich bei einer Erhöhung des pH-Wertes nach und nach in ein festes Gel verwandelt. „Der gleiche Mechanismus kommt auch der Muschel zugute, wenn sie ihre Byssusfäden aufbaut“, sagt Mathew Harrington. Bei der Bildung der Schutzbeschichtung scheidet sie ein flüssiges Sekret aus, das im basischen Meerwasser einen plötzlichen pH-Sprung erfährt und schnell fest wird.
Um sicherzugehen, dass ihre Kopie auch tatsächlich genauso vernetzt ist wie das Original aus dem Meer, schickten die amerikanischen Forscher Proben nach Potsdam. Matthew Harrington untersuchte die chemische Struktur der Substanz mit der konfokalen Raman-Spektroskopie, mit der er auch die Byssushülle durchleuchtete. Mit dieser Methode ist es möglich, die Bindungen zwischen den Eisenatomen und den L-DOPA-Melokülen direkt nachzuweisen. „Wir haben damit bestätigt, dass sich die Eisenmoleküle in dem synthetischen Polymer genau wie bei der Muschel mit steigendem pH-Wert immer stärker vernetzen.“
Harrington ist nun gespannt, ob das neue Material auch praktisch angewendet werden kann. „Ob die Prinzipien der Muschel tatsächlich auch bei industriell hergestellten Werkstoffen zur Anwendung kommen, können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen“, gibt Matthew Harrington zu bedenken. „Aber die Vorstellung, nach dem Vorbild der Muschel biologisch abbaubare, ungiftige und flexible Klebstoffe zu entwickeln, die in der Unterwassertechnik oder der Chirurgie zum Einsatz kommen können, ist schon reizvoll.“
NE/PH