Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Die Ersten unserer Art
In der kargen Wüstenlandschaft der Sahara zeugen fossile Knochen von einer Zeit, als hier in einer fruchtbaren Savanne steinzeitliche Jäger mit Speeren nach Gazellen, Gnus und Zebras jagten. Sowohl genetische Daten heute lebender Menschen als auch Fossilien weisen auf einen afrikanischen Ursprung des Homo sapiens hin. Lange Zeit glaubte man, dass alle heute lebenden Menschen von einer Population abstammen, die vor etwa 200.000 Jahren in Ostafrika lebte. Bei archäologischen Ausgrabungen in Jebel Irhoud (Marokko) unter der Leitung von Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (Leipzig) und Abdelouaded Ben-Ncer vom Nationalen Institut für Archäologie (INSAP, Rabat, Marokko) wurden jedoch deutlich ältere fossile Knochen des Homo sapiens sowie Tierknochen und Steinwerkzeuge entdeckt [1]. Die Fundstücke sind rund 300.000 Jahre alt [2] und damit die ältesten sicher datierten fossilen Belege unserer eigenen Art – mehr als 100.000 Jahre älter als Homo-sapiens-Funde in Äthiopien.
Sensationsfunde in Marokko
Schon in den 1960er-Jahren stießen Minenarbeiter in der Jebel-Irhoud-Höhle durch Zufall auf menschliche Fossilien und Steinwerkzeuge. Die Interpretation dieser Funde wurde allerdings durch eine unsichere Datierung erschwert – und Nordafrika daher jahrzehntelang in Debatten um den Ursprung unserer Spezies vernachlässigt. Als frisch berufener Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie kehrte Jean-Jacques Hublin 2004 mit einem internationalen Team an diese Fundstelle zurück. Die neue Ausgrabung führte zur Entdeckung weiterer Skelettreste des Homo sapiens (die Zahl der Fossilien erhöhte sich so von ursprünglich 6 auf 22), fossiler Tierknochen und Steinwerkzeuge. Die Überreste von Schädeln, Unterkiefern, Zähnen und Langknochen von mindestens fünf Individuen dokumentieren eine frühe Phase der menschlichen Evolution. Die Steinwerkzeuge aus Jebel Irhoud wurden mit der Levallois-Technik vor allem aus hochwertigem Feuerstein hergestellt. Dieses Rohmaterial wurde über weite Strecken transportiert. Das Team um den Geochronologie-Experten Daniel Richter bestimmte das Alter erhitzter Feuersteine aus den archäologischen Fundschichten mithilfe der Thermolumineszenzmethode auf rund 300.000 Jahre. Die Funde von Jebel Irhoud sind daher die derzeit besten Belege für die frühe Phase der Evolution des Homo sapiens in Afrika.
Evolution von Gesicht und Gehirn
Die Schädel heute lebender Menschen zeichnen sich durch eine Kombination von Merkmalen aus, die uns von unseren fossilen Vorfahren und Verwandten unterscheiden: Das Gesicht ist klein und der Hirnschädel ist rund. Die Fossilien von Jebel Irhoud haben einen modernen Gesichtsschädel und eine moderne Form der Zähne und einen großen, aber archaisch anmutenden Gehirnschädel. Modernste Computertomografie (micro-CT) und statistische Analysen der Schädelformen auf Basis von Hunderten von Messpunkten zeigen, dass sich der Gesichtsschädel der Jebel-Irhoud-Fossilien kaum von dem heute lebender Menschen unterscheidet. Allerdings ist der Hirnschädel der Jebel-Irhoud-Fossilien eher länglich und nicht rund wie bei heute lebenden Menschen.
Die Gestalt des inneren Hirnschädels lässt Rückschlüsse auf die Gestalt des Gehirns zu. Die Fossilien aus Marokko zeugen daher von einer evolutionären Veränderung der Gehirnorganisation – und damit möglicherweise auch der Gehirnfunktion – innerhalb unserer Art. Dazu passen auch die Erkenntnisse der Leipziger Genetiker vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Vergleicht man die DNA heute lebender Menschen mit der DNA von Neandertalern und Denisova-Menschen – also ausgestorbenen archaischen Menschenformen –, zeigen sich Unterschiede in Genen, die das Gehirn und das Nervensystem beeinflussen. Evolutionäre Veränderungen der Gehirngestalt stehen daher vermutlich im Zusammenhang mit genetischen Veränderungen der Organisation, Vernetzung und Entwicklung des Gehirns, die den Homo sapiens von unseren ausgestorbenen Vorfahren und Verwandten unterscheiden.
Der Mensch entwickelt sich auf dem gesamten afrikanischen Kontinent
Die neuen Forschungsergebnisse von Jebel Irhoud verändern unser Verständnis der frühen Phase der Evolution von Homo sapiens grundlegend. Die ältesten Homo-sapiens-Fossilien finden sich auf dem gesamten afrikanischen Kontinent: Jebel Irhoud in Marokko (300.000 Jahre), Florisbad in Südafrika (260.000 Jahre) und Omo Kibish in Äthiopien (195.000 Jahre). Die Ähnlichkeit dieser fossilen Schädel spricht für frühe Wanderungsbewegungen innerhalb Afrikas. Lange bevor der Homo sapiens vor etwa 100.000 Jahren Afrika verließ, hatte er sich bereits in Afrika ausgebreitet.
Für eine frühe Ausbreitung innerhalb Afrikas sprechen auch die steinernen Klingen und Speerspitzen. Die Homo-sapiens-Fossilien in Jebel Irhoud wurden gemeinsam mit Knochen von gejagten Tieren und Steinwerkzeugen aus der Epoche der Afrikanischen Mittleren Steinzeit gefunden. Da vergleichbare Steinwerkzeuge aus ganz Afrika dokumentiert sind, vermuten die Leipziger Forscher, dass die technologische Entwicklung der Afrikanischen Mittleren Steinzeit vor mindestens 300.000 Jahren mit der Entstehung des Homo sapiens zusammenhängt. Die Ausbreitung in ganz Afrika bezeugt also eine Veränderung der menschlichen Biologie und des Verhaltens. Die weit verstreuten Homo-sapiens-Populationen waren aufgrund der Größe Afrikas und durch sich verändernde Umweltbedingungen (wie etwa der Wandel der Sahara von einer Savanne zur Wüste) oft für viele Jahrtausende nicht nur geografisch, sondern auch genetisch voneinander getrennt. Diese Komplexität spielte für unsere Evolution eine wichtige Rolle. Der gesamte afrikanische Kontinent ist die Wiege der Menschheit.
Danksagung
Das Jebel-Irhoud-Projekt wird gemeinsam von dem marokkanischen Institut National des Sciences de lʼArchéologie et du Patrimoine und der Abteilung Humanevolution des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie Leipzig durchgeführt. Mein Dank gilt dem gesamten Projektteam und vor allem Jean-Jacques Hublin, Shannon McPherron und Daniel Richter für ihre Beiträge zu dieser Zusammenfassung unserer Forschungsarbeit.