Forschungsbericht 2019 - Max Planck Florida Institute for Neuroscience
Spezifische Adhäsionsmoleküle steuern die Synapsenbildung von Chandelierzellen im Kortex
Interneurone erlauben eine Feinsteuerung der Gehirnströme
Die Signale im Gehirn eines jeden Säugetieres werden maßgeblich durch das Zusammenspiel zweier Hauptklassen von Nervenzellen (Neuronen) gesteuert: anregende und inhibierende. Während anregende Projektionsneurone Signale an weit entfernte Gehirnbereiche weiterleiten können, beeinflussen inhibierende Neurone oft ausschließlich Nervenzellen im unmittelbaren Umfeld. Solche lokal vernetzten Nervenzellen, oder Interneurone, können durch gezielte Signalunterdrückung wesentlich mitbestimmen, welche Signale in benachbarten Nervenzellen ankommen und welche weitergeleitet werden dürfen - oder auch nicht. Diese Interneurone erlauben eine bemerkenswerte Feinsteuerung der elektrischen Ströme im Gehirn.
Interneurone können eine Vielfalt von spezifischen Rollen im neuronalen Netzwerk einnehmen, je nachdem, welche Nervenzellen sie beeinflussen, und sogar abhängig davon, an welcher Position der Zelle sie die Signalgebung unterdrücken. Eine ganz besondere Gruppe von Interneuronen stellen die sogenannten Chandelierzellen (CZ, „Kronleuchter“-Zellen) oder Axo-axonische Zellen dar (Abb. 1). Sie sind die einzigen Zellen im Gehirn, die anregende Zellen genau an der Stelle innervieren, wo sie ihre Aktionspotenziale generieren: im Axon-Initialsegment (AIS; [1, 2]). Das bedeutet, dass diese Zellen eine Wächterfunktion darüber einnehmen, ob Aktionspotenziale entstehen und die Zellen feuern oder nicht.
Die Suche nach kritischen Gensequenzen in Chandelierzellen
Chandelierzellen wurden schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben, blieben aber weitestgehend unerforscht, da sie vergleichsweise klein und selten sind. Insofern ist noch vieles unbekannt darüber, wie genau CZ ihre Partnerneurone und den genauen Ort am AIS lokalisieren, und insbesondere, welche molekularen Mechanismen dahinterstecken – diesem wollten wir auf den Grund gehen.
Als erstes nutzten wir genetische Methoden, um CZ mit leuchtenden Farbstoffen zu markieren, die dadurch im Gehirn gut sichtbar wurden [3]. So gelang es uns, markierte Zellen schon während ihrer frühen Entwicklung zu isolieren und manuell aus dem Gehirn zu extrahieren. Anschließend konnten wir mit einer Transkriptomanalyse sämtliche Gene identifizieren, die zu diesem Zeitpunkt ihrer Entwicklung aktiv waren. Unter diesen Genen haben wir mehrere Kandidaten ausfindig gemacht, die möglicherweise für die frühe Entwicklung der zellulären Vernetzung im Gehirn von Bedeutung sind. Mittels der neuen Geneditierungsmethode Crispr/Cas9 konnten wir im Folgenden die identifizierten Gene systematisch ausschalten und die jeweilige Auswirkung auf die Entwicklung der CZ im Gehirn beobachten.
Die Crispr/Cas9-Methode ist allerdings nicht fehlerfrei, denn die Geneditierung kann zufällige Fehler im Erbgut hervorrufen. Um daher sichere Rückschlüsse zwischen beobachteten Entwicklungsveränderungen der CZ und den spezifischen Genen ziehen zu können, haben wir eine Methode entwickelt, um gezielt einzelne Nervenzellen aus dem Gehirn extrahieren zu können: Nachdem das Verhalten einer Zelle untersucht wurde, schnitten wir mit Hilfe eines Lasers den Zellkörper präzise aus, ohne dabei andere Zellen zu entnehmen. So konnten wir das Erbgut dieser einzelnen Zellen sequenzieren und mit Sicherheit feststellen, dass die entsprechenden Gene, und nur diese, wirklich ausgeschaltet worden waren [4].
Ein kritisches Molekül für die korrekte Entwicklung der Chandelierzellsynapsen
Da wir auf der Suche nach molekularen Mechanismen waren, mit denen die Chandelierzellen die exakte Stelle ihrer postsynaptischen Partnerzellen lokalisieren können, haben wir unter den identifizierten Genen gezielt Kandidaten ausgewählt, die bestimmte Transmembranproteine (ZAM, Zelladhäsionsmoleküle) kodieren. Diese ZAM könnten, mit den passenden Gegenspielern in den Zielnervenzellen, als Schlüssel-Schloss Erkennungsmechanismus zwischen den Nervenzellen dienen. Tatsächlich stießen wir auf ein Gen, das spezifisch sowohl in CZ als auch in denjenigen Pyramidenzellen exprimiert wird, die von CZ innerviert werden. Mittels Geneditierung konnten wir dieses Gen in den Chandelierzellen gezielt ausschalten und beobachteten, dass modifizierte CZ einen kleineren axonalen Baum mit kleineren Synapsen hatten und so wesentlich weniger Nervenzellen mit deutlich weniger Synapsen kontaktieren konnten (Abb. 2). Dies würde bedeuten, dass der hemmende Einfluss der CZ auf die benachbarten Zellen stark verringert und zu einem neuronalen Netzwerk führen könnte, das zu viel feuert – ähnlich wie bei Epilepsie oder Schizophreniepatienten.
Wenn wir umgekehrt das Gen nicht in den CZ, sondern in ihren Zielneuronen ausschalteten, also das Schloss zum Schlüssel, sahen wir ebenfalls eine starke Verringerung der Anzahl und Größe hemmender Synapsen. Wenn wir alternativ das Gen in den Pyramidenzellen überexprimierten, führte dies zu dem umgekehrten Effekt: Die Anzahl der Synapsen wurde dramatisch erhöht. Erstaunlicherweise waren nun nicht mehr nur Verbindungen im gewünschten AIS zu finden, sondern auch an völlig falschen Positionen auf den Zielneuronen, was ebenfalls zu einer gestörten Netzwerkfunktion führen könnte.
Zukünftige Forschung
Dank neuer Methoden, Chandelierzellen zu markieren und genetisch zu verändern, sind wir nun in der Lage, mit Einzelzellgenauigkeit sowohl die Gensequenz als auch die Entwicklung dieser Zellen im Gehirn zu studieren. Im Verlauf unserer Experimente konnten wir ein Gen identifizieren, das notwendig und hinreichend ist, um die präzise Lokalisation der Synapsen von Chandelierzellen zu steuern. Wir werden jetzt weitere Genkandidaten untersuchen und fragen, welche genaue Aufgabe diese in der Entwicklung der CZ-Zellen einnehmen. Das Fernziel der funktionellen Beschreibung dieser Gene ist die frühe Identifizierung bestimmter psychiatrischer Erkrankungen, wie zum Beispiel Epilepsie oder Schizophrenie.
Literaturhinweise
Science 339, 70-74 (2013)
Cell Reports 28, 325-331.e4 (2019)