Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht
Predictive Policing – eine Evaluationsstudie zu vorhersagebasierter Polizeiarbeit
Ein neuer Ansatz bei der Bekämpfung von Wohnungseinbrüchen
Wie auch in anderen Regionen Deutschlands ist in Baden-Württemberg die Anzahl der Wohnungseinbruchdiebstähle in den Jahren 2007 bis 2014 stark angestiegen. Um dem entgegenzuwirken, wurde von der Polizei Baden-Württemberg unter Leitung des Landeskriminalamts Baden-Württemberg das Pilotprojekt Predictive Policing (P4) in den Polizeipräsidien Karlsruhe und Stuttgart durchgeführt. Dabei kam eine kommerzielle Computersoftware zum Einsatz, die für einzelne Gebiete erhöhte Wahrscheinlichkeiten von zukünftigen Einbrüchen vorhersagt, worauf ein Alarm generiert wird, auf den polizeiliche Maßnahmen folgen. Ziel ist es, sogenannte Near-Repeat-Folgedelikte zu verhindern. Das sind Wohnungseinbrüche, die nicht selten in räumlicher und zeitlicher Nähe auf einen ersten Einbruch einer Serie folgen.
Ob das funktioniert, wurde vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht (MPICC) untersucht, das für das Landeskriminalamt Baden-Württemberg eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation des Pilotprojekts durchführte. Diese erstreckte sich über zwei Testphasen in den Jahren 2015/16 und 2017/18. Um die Wirksamkeit zu messen, wurden prozessgenerierte Daten analysiert. Aufschluss über Akzeptanz und Praktikabilität innerhalb der beteiligten Polizeidienststellen geben eine Online-Befragung mit circa 700 Teilnehmern und Experteninterviews. In der zweiten Evaluationsphase wurde zur genaueren Messung der Wirksamkeit ein experimentelles Forschungsdesign integriert.
Was ist Predictive Policing?
Predictive Policing wird als Präventionsmethode definiert, bei der durch die Auswertung von Daten und die Anwendung statistischer Verfahren Prognosen über zukünftige Kriminalität erstellt und auf deren Basis polizeiliche Maßnahmen ergriffen werden, um diese vorhergesagten Straftaten zu verhindern. Man unterscheidet zwischen „place-based predictive policing“ und „person-based predictive targeting“ – also orts- und personenbezogenen Vorhersagen. In beiden Bereichen kommen Prognosemethoden zur Anwendung, die von einfachen statistischen Analysen bis zur künstlichen Intelligenz reichen und sich auf unterschiedliche Deliktsbereiche beziehen. Dabei geht es immer nur um die Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten und nicht um konkrete Taten.
Obwohl in zahlreichen Ländern verschiedenste Predictive-Policing-Strategien angewendet werden und diese mitunter umstritten sind, fehlen bis auf wenige Ausnahmen bislang (wissenschaftliche) Untersuchungen zur Wirksamkeit, die nicht von der Polizei oder den Herstellern entsprechender Software selbst stammen. Die Evaluation des Pilotprojekts P4 der Polizei Baden-Württemberg stellt die erste wissenschaftliche Evaluation einer Anwendung von Predictive Policing für den kontinentaleuropäischen Kontext dar. Die Prognosen der dort eingesetzten Software beruhten dabei auf simulationsbasierten, für die Anwender nachvollziehbaren „Wenn-dann-Entscheidungen“ und nicht auf künstlicher Intelligenz.
Der Nutzen bleibt ungewiss
Die erste Phase der Evaluation (30. Oktober 2015 bis 30. April 2016) wurde mit einem Ergebnisbericht abgeschlossen [1, 2]. Inwieweit Predictive Policing dazu beitragen kann, die Zahl der Wohnungseinbrüche zu verringern, ist trotz einiger positiver Hinweise schwer zu beurteilen. Auf der Basis der verfügbaren Daten zu den Prognosen durch die Software, der darauffolgenden polizeilichen Maßnahmen (gemessen über anonymisierte GPS-Daten von Polizeifahrzeugen und dokumentierten Einsatzdaten) sowie der Fallentwicklung waren einige relevante Schlussfolgerungen möglich. So wurde zum Beispiel festgestellt, dass sich die Anzahl an Near-Repeat-Folgedelikten in bestimmten Gebieten reduzierte. Aus Modellrechnungen ergab sich jedoch, dass die kriminalitätsmindernden Effekte von Predictive Policing im Pilotprojekt P4 wahrscheinlich nur in einem moderaten Bereich liegen. Der Nutzen der Methode ist also ungewiss – und das spiegelt sich auch in den Ergebnissen einer Online-Befragung von etwa 700 Polizistinnen und Polizisten zu ihren Meinungen und Erfahrungen beim Einsatz von Predictive Policing wider: Die Interviewten hatten gegenläufige Ansichten und diejenigen, die im täglichen Dienst mit besonders vielen Alarmen konfrontiert waren, schätzten den Nutzen geringer ein. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass durch die Computerprognosen Handlungsautonomie verringert wird oder auch darauf, dass die Maßnahmen durch die Vorhersagen präventiv wirken und der Nutzen nur schwer fassbar ist.
Wegen der methodischen Einschränkungen waren die ersten Ergebnisse in ihrer Aussagekraft vorsichtig zu bewerten und lassen keine kausalen Schlüsse zu. Vom 1. August 2017 bis zum 30. Juni 2018 erfolgte eine zweite Evaluationsphase in den gleichen Pilotpräsidien. Für eine bessere Messung der Wirksamkeit wurde in dieser Testphase ein Forschungsdesign implementiert, bei dem auf Vorhersagen basierende Alarme zufällig einer Experimental- oder Kontrollgruppe zugewiesen wurden. Die Ergebnisse bekräftigen, dass near-repeat-affine Gebiete von dem Einsatz profitieren können. Unter Kontrolle der Polizeidichte und weiterer struktureller Parameter (etwa Distanz zu Schnellstraßenanschlüssen) zeigt sich aber auch hier nur ein moderater Effekt von durchschnittlich 0,3 Folgedelikten weniger bei Alarmen der Experimentalgruppe (Alarme wurden an die Reviere weitergegeben) im Vergleich zu Alarmen der Kontrollgruppe (gewöhnliches Vorgehen nach einem Einbruch). Eine auffallend rückläufige, auf den Einsatz von Predictive Policing zurückzuführende Entwicklung von Wohnungseinbruchdiebstählen war in den Pilotdienststellen indes nicht feststellbar.
Mit der Durchführung der Evaluationsstudie wurde deutlich, dass Predictive Policing mehr ist, als Prognosen zu erstellen, und dass vielfältige Aspekte für einen erfolgreichen Einsatz relevant sind. Dies sollte bei der Implementation neuer computergestützter Polizeistrategien stets bedacht werden.
Literaturhinweise
European Journal for Security Research (2018)