Mit dem richtigen Maß gegen Omikron
Dass die meisten Menschen ihr Verhalten über geltende Regeln hinaus an die epidemische Lage anpassen, trägt maßgeblich zum Infektionsschutz bei
Die Omikronwelle könnte möglicherweise weniger verheerend verlaufen als die pessimistischsten Szenarien derzeit prognostizieren. Das kann aber nur gelingen, wenn ein Großteil der Bevölkerung sein Verhalten wie bei den bisherigen Wellen über die die geltenden Regeln hinaus an das Infektionsgeschehen anpasst. Ein Team um Viola Priesemann, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und der Universität Göttingen, hat in Modellrechnungen erstmals genau das Zusammenspiel von verpflichtenden und freiwilligen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronaepidemie untersucht. Auf diese Weise können sie nachvollziehen, wie die aktuell geltenden Kontaktbeschränkungen die Delta-Welle brechen konnten. Welche Massnahmen angesichts der Omikron-Welle nötig werden, ist allerdings noch unklar.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronaepidemie können auch zu strikt sein – zumindest wenn Impfungen besonders vulnerable Menschen weitgehend vor schweren Verläufen der Covid-19-Erkrankung schützen. Dann verhindert die Unterdrückung jeglichen Infektionsgeschehens, dass der Kontakt zum Virus einige Menschen auf natürliche Weise immunisiert oder boostert. Zudem kann sich unter solchen Bedingungen eine Infektionswelle auftürmen, sobald die strengen Maßnahmen wie etwa ein kompletter Lockdown aufgehoben werden. Etwas moderatere Vorkehrungen wie etwa die 3G-,2G- und 2G+-Regelungen lassen den Menschen zudem Spielraum, ihr Verhalten abhängig vom einen Risikoempfinden freiwillig an steigende Fallzahlen und die Belastung der Intensivstationen und des medizinischen Personals anzupassen. So schränkte ein großer Teil der Bevölkerung während der bisherigen Infektionswellen seine Kontakte aus freien Stücken weiter ein als durch Regelungen der Regierungen gefordert, trug konsequenter einen Mund-Nasen-Schutz und ließ sich nicht zuletzt vermehrt impfen.
Gegen die Deltavariante fanden die Regelungen von November und Dezember das richtige Maß
„Wir haben jetzt erstmals anhand von empirischen Daten aus vergangenen Infektionswellen ermittelt, wie sich die Rückkopplung zwischen dem Infektionsgeschehen, den verpflichtenden Maßnahmen, dem freiwilligen Verhalten sowie der Impfbereitschaft auswirkt, und den empirisch quantifizierten Effekt in Modellrechnungen zum Verlauf der Epidemie berücksichtigt“, sagt Emil Iftekhar, der als Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation maßgeblich an der Studie beteiligt war. Die Modellrechnungen des interdisziplinären Teams, an dem neben den Göttinger Max-Planck-Forschern auch André Calero Valdez von der RWTH Aachen, Mirjam Kretzschmar vom University Medical Center Utrecht auch Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin und Michael Mäs vom Karlsruhe Institut für Technologie beteiligt waren, sind bereits öffentlich einsehbar, haben aber noch nicht den üblichen Begutachtungsprozess für wissenschaftliche Studien durchlaufen.
Für Deutschland bestätigten die Rechnungen, dass die Bundes- und Landesregierungen mit den Maßnahmen, die seit Ende November, Anfang Dezember gelten, den richtigen Weg fanden, um die vierte Coronawelle, in der noch die Deltavariante des Virus dominierte, zu brechen und dennoch Spielraum für freiwilligen Infektionsschutz zu lassen sowie die Impflücke weiter zu schließen. „Solange wir keine Impfung hatten, war es nötig die Fallzahlen niedrig zu halten“, sagt Viola Priesemann. „Mit der Deltavariante bestand die Aussicht, von einem epidemischen zu einem endemischen Infektionsgeschehen gelangen. Dafür ist es wichtig, dass der Infektionsschutz weder zu schwach ausfällt und das Gesundheitssystem möglicherweise kollabiert noch zu stark, so dass die Gesellschaft unverhältnismäßig belastet wird und es dann nach dem Ende der Maßnahmen eine neue Welle gibt.“
Verschiedene Szenarien für die Omikronwelle
Wo das richtige Maß für den Infektionsschutz liegt, verschiebt sich mit der Omikronvariante aber offenbar, weil sie viel ansteckender ist. „Omikron kann eine große Herausforderung werden“, sagt Viola Priesemann. „Bei dem Anstieg, den wir in vielen Ländern beobachten, sind weitere Kontaktbeschränkungen, bis hin zum Lockdown recht wahrscheinlich.“ Wie genau sich die Omikronwelle entwickeln wird, hängt jedoch von einigen bislang unbekannten Faktoren ab. Unklar ist etwa, wie gut eine Impfung inklusive Booster vor einer Ansteckung schützt und wie häufig die Omikronvariante zu einem schweren Covid-Verlauf führt. Daher berechnete das Team um Viola Priesemann verschiedene Szenarien für die Omikronwelle. In allen Fällen gehen die Forschenden aus, dass der Schutz gegen schweren Verlauf für geimpfte und genesene erhalten bleibt oder vielleicht sogar besser ist. Sollte die dreifache Impfung zudem einen 80prozentigen Schutz vor einer Ansteckung bringen, dürften Maßnahmenpakete, wie sie je nach Bundesland seit Ende November oder Anfang Dezember galten, nur zu einer kurzzeitigen Überlastung der Intensivstationen führen.
Je schwächer eine komplette Impfung jedoch vor einer Infektion beziehungsweise vor einem schweren Verlauf schützt, desto höher wird sich die Omikronwelle auftürmen, selbst wenn die meisten Menschen ihre Kontakte freiwillig reduzieren und sich vermehrt impfen lassen. Wenn etwa die Impfung nur zu 50 Prozent vor einer Infektion und nicht besser vor einem schweren Verlauf schützt als bei der Deltavariante, hieße das: Die November- beziehungsweise Dezember-Maßnahmen könnten nicht verhindern, dass die Kapazität der Intensivstationen um mehr als 100 Prozent überschritten würde. „Solche extremen Szenarien halten wir aber für unrealistisch, weil sicherlich Gegenmaßnahmen, bis hin zum Lockdown, getroffen würden, wenn sie sich abzeichnen“, sagt Viola Priesemann. Die Studie ihres Teams berücksichtigt aktuell, was Mitte Dezember über die Omikronvariante bekannt war. „Wir werden die Rechnungen aber aktualisieren, sobald wir mehr Informationen über die Omikronvariante haben“, so die Physikerin.
PH