Die unerwartete Zukunft von Öl und Gas
Die hohen Energiepreise verstellen derzeit den Blick auf ein Dilemma, das in naher Zukunft bevorstehen dürfte: Wenn die Energieerzeugung in vielen Staaten zunehmend ohne Erdöl und Erdgas auskommt, wird der Preis sinken. Damit wird es für Länder, die sich keine Energiewende leisten können oder wollen, wieder attraktiver, fossile Brennstoffe zu nutzen. Unser Autor plädiert dafür, schon jetzt die Suche nach alternativen Nutzungsmöglichkeiten zu forcieren.
Ein Essay von Kai A. Konrad, Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen
Die Weltvorräte an Gas und Öl sind erheblich. Werden sie verbrannt, entsteht viel Treibhausgas. Soll die Erderwärmung im Rahmen bleiben, muss folglich die Energiewirtschaft auf fossile Brennstoffe verzichten. Aktuellen Studien zufolge dürften angesichts der gesetzten Klimaziele sechzig Prozent der Öl- und Gasbestände nicht verbrannt werden, von den Kohlevorkommen ganz zu schweigen. Wie ist das zu bewerkstelligen?
Die aktuelle nationale und internationale Klimapolitik setzt zur Dekarbonisierung auf eine Dämpfung der Nachfrage nach fossilen Energieträgern, etwa durch international handelbare CO2-Zertifikate, durch Steuern auf CO2-Emissionen, durch ein angekündigtes Verbot von Ölheizungen oder durch den zeitlich gestaffelten Abschied vom Verbrennungsmotor. Zugleich soll die Subvention klimaneutraler Energieformen Substitutionsprozesse weg von Öl und Gas in Gang setzen. Das Problem ist: Die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen muss global eingedämmt werden. Mit unverbindlichen Absprachen oder dem Vertrauen darauf, dass alle Länder schon das Richtige tun werden, wird man nicht ans Ziel gelangen. Notwendig wäre ein Abkommen mit bindenden Verpflichtungen zwischen souveränen Staaten, das die gesamte Emissionsminderung festlegt und deren Aufteilung regelt. Das ist aber nicht nur schwierig zu verhandeln, sondern auch kaum durchzusetzen und zu überwachen. Konstruktive Ansätze gibt es. Und eine Serie von mehr als 25 jährlich stattfindenden Weltklimakonferenzen, auf denen verhandelt wurde. Der Verlauf stimmt indes nicht zuversichtlich.
„Versiegt die Nachfrage, würden die verbleibenden Vorräte weitgehend wertlos“
Ein zweites Problem entsteht, sollte der kollektive Kraftakt gelingen, die Nachfrage nach Öl und Gas weltweit zu drosseln. Mit dem Verschwinden der Nachfrage verschwinden nicht die Bestände an Erdöl und Erdgas. Unter dem Wüstensand des Staatsgebiets von Saudi-Arabien beispielsweise lagern Milliarden Barrel fossiler Brennstoffe. Bei heutigen Marktpreisen haben sie einen Wert von Abermilliarden. Was aber bedeutet es für Saudi-Arabien, wenn in wenigen Jahrzehnten die globale Nachfrage nach Öl und Gas versiegt? Die verbleibenden Vorräte würden weitgehend wertlos. Da ist es für Saudi-Arabien und für alle Länder mit großen Öl- und Gasvorkommen besser, die eigenen Vorräte schnell aus dem Boden zu pumpen und zu verkaufen, bevor sie ihren Wert verlieren. Diese Überlegungen lassen sich volkswirtschaftlich in intertemporalen Gleichgewichtsmodellen für erschöpfbare natürliche Ressourcen nachvollziehen und stehen im Einklang mit grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Ressourcenökonomik. Die Marktlogik besagt: Der Rückgang der Nachfrage in der Zukunft führt zu einem stark ansteigenden Öl- und Gasangebot in der Gegenwart und damit zu einem Preisverfall. Sinkt der Preis, steigt die Nutzung von Öl und Gas, und damit steigen auch die CO2-Emissionen in den Ländern, die sich an keinem Klimaabkommen beteiligen, und auch anderswo, bis die Nachfragerestriktionen aus einem Abkommen greifen. Der Preisverfall macht es zudem für alternative Energieträger schwierig, sich am Markt gegen billiges Öl und Gas durchzusetzen. Auch die natürlichen Innovationsanreize für grüne Technologien sinken.
Kriegs- und sanktionsbedingt folgten der Gas- und der Ölpreis in den vergangenen Wochen nicht dem hier beschriebenen Muster. Lieferausfälle aus Russland zu kompensieren dauert eine Weile, verändert aber nicht die Gesamtmengen an Öl und Gas, die insgesamt und über die Zeit zur Förderung vorhanden sind. Insofern stehen diese Preiskapriolen nicht im Widerspruch zu den hier skizzierten Angebotsentscheidungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, die zu erwarten sind, wenn ein verbindliches und wirksames globales Klimaabkommen zustande kommt.
In der Wissenschaft haben sich für dieses Problem die Begriffe rush to burn oder auch grünes Paradoxon etabliert. Es mag paradox klingen, aber die sich allmählich verschärfenden politischen Maßnahmen, die die energetische Nutzung fossiler Kohlenwasserstoffe in der Zukunft einschränken, verkehren in der Gegenwart die gewünschten klimapolitischen Effekte eines Klimaabkommens in ihr Gegenteil. Auf solche Gefahren hat die umfang-reiche theoretische Literatur zum grünen Paradoxon hingewiesen und empirische Evidenz für entsprechende Verhaltens- und Marktreaktionen erbracht. Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn wurde für das Überbringen dieser schlechten Nachricht 2009 mit dem „Dinosaurier des Jahres“ ausgezeichnet. Inzwischen hat sich die zwingende Logik des Zusammenhangs zumindest unter Klimaökonomen herumgesprochen.
„Gas und Öl für klimafreundliche Produkte einzusetzen, würde den Markt radikal verändern“
Angesichts dieser Probleme wurde vor einigen Jahren vorgeschlagen, die Länder mit Öl- und Gasvorräten dafür zu bezahlen, dass sie diese Vorräte nicht fördern, sondern auf ewig im Boden lassen. Eine überzeugende Lösung ist das nicht, denn die erforderlichen jährlichen Kompensationszahlungen an die Rohstoffländer übersteigen leicht unsere Vorstellungskraft. Und Verhandlungen über die Finanzierung durch die Staatengemeinschaft würden ähnlich schwierig wie die auf Nachfragemaßnahmen gerichteten Klimaverhandlungen.
Besser wäre es, Gas und Öl zu fördern und nutzbringend einzusetzen, aber nicht klimaschädlich, sondern für klimaneutrale oder klimafreundliche Produkte. Das würde den Markt radikal verändern. Öl und Gas wären als Rohstoffe für zukünftige Produkte wertvoller, als sie derzeit sind. Der rush to burn würde gestoppt. Kein Ressourcenland müsste seine Vorräte so schnell wie möglich fördern und zu Dumpingpreisen verkaufen, man könnte sich vielmehr mit der Förderung und dem Verkauf Jahrzehnte Zeit lassen. In der Folge wären Öl und Gas schon heute knapper und die Preise höher. Höhere Preise würden die Energiewende beflügeln, denn alternative klimafreundliche Energiekonzepte wären am Markt konkurrenzfähiger und ihre Innovation wirtschaftlich interessanter. Im Idealfall würden Öl und Gas zu wertvoll und zu teuer, um überhaupt noch verbrannt zu werden. Und ein internationales Klimaabkommen, CO2-Steuern oder Nutzungsverbote für Öl und Gas zu Verbrennungszwecken würden überflüssig.
Auch wenn manche der wirtschaftlich interessanten klimaneutralen Produkte aus Öl und Gas erst in Jahren oder Jahrzehnten marktreif sein sollten, zeigen gleichgewichtstheoretische Überlegungen, dass die Wirkung auf dem Markt unmittelbar und bereits heute einsetzt. Das hat mit einer Besonderheit von Rohstoffmärkten zu tun. Der Ressourcenvorrat an Öl und Gas ist gegeben und endlich. Wer seinen Vorrat heute verschleudert, hat morgen nichts mehr zu verkaufen. So wie eine drohende Wertlosigkeit von Öl und Gas die schnellere Förderung beflügelt, führt die Perspektive einer wirtschaftlich attraktiveren zukünftigen Nutzung zu einer Angebotszurückhaltung der Ressourceneigner. Es lohnt sich, die Vorräte zu schonen und mit dem Verkauf zu warten. Auch diese Intuition lässt sich durch modelltheoretische Ergebnisse stützen.
Ohne klare klimafreundliche Nutzungsalternativen wären diese Überlegungen nur Glasperlenspiele. Was aber könnten die klimaneutralen Verwendungen für Öl und Gas sein? Eine der vielleicht interessantesten Ideen besteht in der Erzeugung von Wasserstoff aus Methan, das mit circa 75 bis 99 Prozent der Hauptbestandteil von Erdgas ist. Daran wird auch in der Max-Planck-Gesellschaft geforscht. Bisher ist vor allem die Gewinnung von „grauem“ oder „blauem Wasserstoff“ bekannt: Dabei erfolgt die Aufspaltung von Methan unter zumindest teilweiser Freisetzung von CO2. Eleganter sind Verfahren wie die katalytische Pyrolyse. Dieses Verfahren vermeidet die Freisetzung von CO2 und gewinnt neben Wasserstoff auch reinen Kohlenstoff, teilweise in Form wertvoller Nanomaterialien. Eine rege Veröffentlichungsaktivität belegt Fortschritte bei der Produktion dieses „türkisen Wasserstoffs“. Die katalytische Zerlegung erfordert zwar Energie-zufuhr, aber nur etwa ein Achtel der Energiezufuhr, die für die Gewinnung von „grünem Wasserstoff“ nötig ist, der derzeit in aller Munde ist.
Wasserstoff ist als klimafreundlicher und CO2-neutraler Energieträger ein zentraler Input in einer Wirtschaft nach der Transformation. Vielleicht noch wichtiger als der Wasserstoff sind die bei der Pyrolyse entstehenden Kohlenstoff-Nanomaterialien (CNTs). Aus CNTs gefertigte Karbonprodukte finden mögliche Anwendungen unter anderem im Bauwesen, im Fahrzeugbau und in der Luft- und Raumfahrt. Sie könnten dort traditionelle Materialien wie Stahl, Aluminium oder Beton ersetzen. Da diese Materialien üblicherweise mit einem erheblichen CO2-Fußabdruck hergestellt werden, könnten durch die Substitution in großem Umfang CO2-Emissionen eingespart werden.
„Ein Zukunftsversprechen reicht aus, um den Ausverkauf zu stoppen“
Bis zu einer großtechnischen Nutzung der CO2-emissionsfreien katalytischen Pyrolyse mag es noch einige Zeit hin sein. Aber die gleichgewichtstheoretische Analyse intertemporaler Zusammenhänge in Märkten für erschöpfbare Rohstoffe zeigt: Für die wirksame Umkehrung des rush to burn ist eine sofortige Verfügbarkeit der klimafreundlichen Verwendungsmöglichkeiten von Öl und Gas nicht erforderlich. Ein Zukunftsversprechen auf solche Nutzungsoptionen reicht aus, um den Ausverkauf zu stoppen.
Die CO2-freundliche Nutzung von Kohlenwasserstoffen muss sich nicht auf die Zerlegung von Methan beschränken. Auch für Erdöl gibt es bereits heute klimapflegliche Verwendungen. Beispiele sind Kunstfasern, Dämmstoffe in der Bauindustrie oder Produkte aus Plastik. Quantitativ spielen diese heute noch eine eher untergeordnete Rolle. Das ließe sich jedoch ändern. Außerdem denken viele bei Plastik wohl unmittelbar an die Verschmutzung der Weltmeere mit Plastikabfällen, die biologische Belastung durch Mikroplastikpartikel in Fischen, Tieren und im Menschen und daran, dass das Plastik, das nicht entlang der Wasserstraßen in die Welt-meere treibt, nur allzu häufig in Müllverbrennungsanlagen landet und dort klimabelastend verbrannt wird. Allerdings ist das nicht ein Argument gegen die Nutzung von Erdöl zur Erzeugung nützlicher Kunststoffe an sich, sondern nur dagegen, wie unsere Wirtschaft und Gesellschaft heute mit Kunststoffen umgeht. Der Weg von Produkten aus Plastik in die Weltmeere oder in die Müllverbrennung ist nicht naturgesetzlich. Wenn Plastik beispielsweise am Ende seiner Nutzung in der Erde deponiert wird, also da landet, woher der Rohstoff für Plastik ursprünglich kommt, treten die negativen Umwelt- und Klimawirkungen der Plastiknutzung nicht ein. Kunststoffe würden dann zu einer Verwendung, welche Rohöl wertvoll macht, es der CO2-intensiven energetischen Nutzung entzieht und fossile Kohlenwasserstoffe für lange Zeit klimaneutral zu binden vermag.
Türkiser Wasserstoff, Karbonfasern, Kunststoffe und andere Ölprodukte wären ein Anfang, dem rush to burn zu begegnen. Wichtiger noch als die hier genannten Produkte aus Rohöl und Erdgas sind vielleicht die Produkte, die es heute noch gar nicht gibt, die aber in den kommenden Jahren erfunden und innoviert werden könnten. Die Politik kann helfen, diese Prozesse in Gang zu setzen durch klare Weichenstellungen und die Schaffung langfristig stabiler Rahmenbedingungen.
„Es ist wenig hilfreich, Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen zu fördern“
Entscheidend für die Umkehrung des rush to burn ist es, Erdgas und Erdöl für klimaneutrale Nutzungen knapp und wertvoll zu machen. Es ist deshalb wenig hilfreich, Produkte zu fördern, die der klimaneutralen Nutzung fossiler Brennstoffe die Nachfrage entziehen, etwa Substitute aus nachhaltigen Ressourcen wie Holz oder Substitute aus nachwachsenden Pflanzen. Paradoxerweise sind solche Produkte und ihre Förderung eher geeignet, den rush to burn zu befeuern.
Eher zieladäquat wäre eine Politik, die die Innovation von klimafreund-lichen Produkten aus Öl und Gas fördert. Die Bauindustrie sollte, statt auf Baumaterialien aus dem Mittelalter zu setzen, den Ersatz von Stahl, Aluminium und Beton durch karbonbasierte Baumaterialien forcieren. Karbonbasierte, klimaneutral produzierte Konstruktionsmaterialien könnten vermutlich im Bereich des Automobilbaus oder der Luftfahrt CO2-intensiv erzeugte Baumaterialien ersetzen – möglicherweise sogar mit positivem Einfluss auf die Grenzen des technisch Machbaren. Und wenn so Gas und Öl hinreichend attraktiv und damit teuer werden, kann auch die Energiewende gelingen, und zwar auf marktwirtschaftlichem Wege und ohne hohe Subventionen.