Wenn das Gehirn einen Gang runterschaltet
Computersimulationen erklären Tempoänderungen im visuellen Cortex
Das Gehirn integriert Informationen mal schneller, mal langsamer und ändert so flexibel seine Zeitskalen. Dies ist das Ergebnis einer Studie eines internationalen Forschungsteams. Mittels Analysen experimenteller Daten aus dem visuellen Cortex sowie Computersimulationen können die Forschenden auch erklären, wodurch unterschiedliche Zeitskalen entstehen und wie sie sich ändern: Die Struktur der neuronalen Netze bestimmt, in welchem Tempo die Integration der Information abläuft.
Unterschiedliche Prozesse im Gehirn laufen auf eigenen Zeitskalen ab: Während Input der Sinnesorgane in wenigen Millisekunden verarbeitet wird, müssen für komplexe kognitive Prozesse wie etwa Entscheidungsfindung manchmal minutenlang lang Informationen integriert werden. Dementsprechend arbeiten manche Hirnregionen schneller als andere. Diese intrinsischen Zeitskalen sind nicht starr und unveränderlich. Bislang war jedoch nur wenig darüber bekannt, wie sie sich an verschiedene Situationen und Aufgaben anpassen können.
Ein Team von Forschenden aus Tübingen, Princeton, Stanford, Newcastle und Washington hat nun untersucht, wie sich die Zeitskala einer Hirnregion während der Ausführung einer Aufgabe ändern kann. Konkret lautete die Fragestellung: Wenn man die visuelle Aufmerksamkeit auf einen Punkt im Raum fokussiert oder sie dorthin lenkt, wie ändert sich dann das Tempo neuronaler Aktivität in der zuständigen Hirnregion? Zur Beantwortung dieser Frage analysierten die Forschenden Daten aus früheren Publikationen von Experimenten, bei denen von Makaken-Affen visuelle Aufmerksamkeit verlangt wird. Gemessen wurde die Aktivität im visuellen Cortex V4, einer Hirnregion, die für diese Art der Aufmerksamkeit zuständig ist.
Aktivität auf zwei verschiedenen Zeitskalen
Während beider Aufgaben spielte sich die neuronale Aktivität auf mindestens zwei Zeitskalen ab: einer langsamen und einer schnellen. Interessanterweise waren darüber hinaus auch Fluktuationen innerhalb der langsameren Zeitskala zu beobachten: Wenn die Aufmerksamkeit auf einer gegebenen Stelle im Gesichtsfeld lag, verlor die langsame Aktivität in den entsprechenden Neuronenpopulationen noch weiter an Tempo. Darüber hinaus ging langsamere Aktivität verlässlich mit kürzeren Reaktionszeiten einher. „Dies mag der Intuition widersprechen, ist aber im Grunde sehr plausibel“, kommentiert Roxana Zeraati, Forscherin an der Universität Tübingen und dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. „Eine langsamere Zeitskale bedeutet, dass es eine stärkere Korrelation zwischen dem gegenwärtigen Zustand des Gehirns und seinem gerade vergangenen Zustand gibt. Wenn die Neuronen mit etwas beschäftigt sind, erinnern sie sich besser an ihre eigene Vergangenheit; und das bedeutet Verlangsamung.“
In einem weiteren Schritt stellten sich die Forschenden die Frage, wie ein Netzwerk aus Neuronen diese unterschiedlichen Zeitskalen hervorbringen kann. „Wir haben mittels Computersimulationen drei verschiedene Hypothesen getestet“, fasst Anna Levina zusammen, die als Juniorprofessorin in Tübingen Zeraatis Doktorarbeit betreut. „Rühren die verschiedenen Zeitskalen einfach daher, dass manche Neuronen langsamer beziehungsweise schneller arbeiten? Oder sind vielleicht ihre verschiedenen biophysikalischen Eigenschaften verantwortlich? Unsere dritte Vermutung stellte sich als die allein richtige heraus: Der Schlüssel liegt nicht in den Eigenschaften einzelner Neuronen, sondern in der Struktur des Netzwerks.“
Straßennetze versus Fluglinien
Verschiedene Verbindungen von Neuronen bringen unterschiedliche Zeitskalen hervor: So generieren beispielsweise sogenannte Cluster-Netzwerke langsame Skalen. „Man kann ein Cluster-Netzwerk mit dem europäischen Straßennetz vergleichen“, erläutert Levina, die das Projekt gemeinsam mit ihrer Kollegin Tatiana Engel aus Princeton leitete. „Zwei beliebige Orte in Paris sind sehr gut miteinander verbunden; viel schwieriger ist es, von einem Dorf in Burgund zu einem Strand in Portugal zu kommen. Im Gegensatz dazu sieht das Flugliniennetz fast zufällig aus: Es kann schwer sein, von einer Stadt in ihre Nachbarstadt zu kommen, aber mit vielen Anschlussflügen kommt man fast überall hin. Netzwerke, die den Fluglinien ähneln, können keine so langsamen Zeitskalen hervorbringen wie straßennetzartige Netzwerke.“
Das Forschungsteam konnte Netzwerke konstruieren, die in der Computersimulation exakt die experimentell beobachteten Zeitskalen replizierten. Das theoretische Modell erklärt auch die Schwankungen während der Bearbeitung der Aufgaben: Die Interaktionen zwischen den Neuronen werden dabei geringfügig effizienter, so dass sich das Tempo der neuronalen Ereignisse ändert. Die Ergebnisse könnten eine neue Perspektive auf das Gehirn eröffnen: “Unsere experimentellen Beobachtungen und Computermodelle bilden gemeinsam eine Grundlage für eine Untersuchung des Zusammenhangs von Netzwerkstruktur, funktioneller Dynamik im Gehirn und flexibel modulierbarem Verhalten“, schließt die Studie.