Forschungsbericht 2023 - Bibliotheca Hertziana - Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Kunstgeschichte und Dekolonisierung musealer Praktiken
Art history and the decolonisation of the museum
Bibliotheca Hertziana - Max Planck Institute for Art History, Rom
Chronologien, Klassifizierungen und Taxonomien zu erstellen und sie auf Studienobjekte anzuwenden, gehört zum traditionellen Rüstzeug der Kunstgeschichte. Das Fach pflegt mit seiner vorwiegend eurozentrischen Ausrichtung hierbei hierarchische Ordnungssysteme, in denen Werke in ihrem kulturellen Herstellungskontext verortet werden. Solche Kategorien und entsprechende museale Ordnungs- und Ausstellungspraktiken haben dazu beigetragen, Vorstellungen einer vermeintlichen Minderwertigkeit kolonisierter Völker zu konsolidieren. Diese methodologischen Vorgaben sollen unter dem Projekttitel Decolonizing Italian Visual and Material Culture hinterfragt werden. Das Projekt wird durch die École française de Rome im Rahmen des interdisziplinären Forschungsnetzwerks SPAZIDENTITA gefördert.
Zeugnisse der durch den europäischen Kolonialismus etablierten ethnischen Hierarchien finden sich an Denkmälern, in Gebäuden öffentlicher Institutionen, in Straßennamen und auch in den Ausstellungspraktiken von Museen. Diese materiellen und immateriellen Spuren der kolonialen und imperialistischen Vergangenheit, die jüngst weltweit ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt sind, unterstehen in Italien den Gesetzen zum Schutz des Kulturerbes und den mit der Erhaltung und Verwaltung von Kulturgütern betrauten Institutionen. Dies erlaubt es Kunsthistorikern und Kunsthistorikerinnen, an der Debatte über die Dekolonisierung öffentlicher und institutioneller Räume und an der Entwicklung neuer Praktiken der Dekonstruktion und Rückverortung von Denkmälern und Objekten aus kolonialen und diktatorischen Kontexten mitzuwirken. Viele der aus den ehemaligen Kolonien Italiens entwendeten Kulturgüter dürften in den kommenden Jahren zurückgegeben werden. Doch wie steht es mit Gegenständen im Kolonialstil, die von den Kolonialmächten selbst geschaffen wurden?
Das Gespenst des Kolonialismus im Museum heute
Das ehemalige Museo Coloniale di Roma (1923–1972) steht im Fokus einer Fallstudie, die einen Beitrag zur laufenden Debatte um dessen Kulturgüter leisten will. Im faschistischen Italien agierte das römische Kolonialmuseum als ein Motor kolonialer Propaganda und blieb auch nach dem Ende der italienischen Kolonialgeschichte bis in die 1970er Jahre für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Museum akquirierte für seine Bestände unterschiedliche Anschauungsobjekte, von ethnografischem, zoologischem und pflanzlichem Material über Kunstwerke aus den kolonisierten Ländern bis hin zu in Italien hergestellten kolonialzeitlichen Waffen, Medaillen, Fahnen, Gemälden, Skulpturen und Stichen. In dieser komplexen Sammlungskonstellation begegnen wir neben den repräsentativen Werken des italienischen Orientalismus und Futurismus als Ausdruck propagierter kultureller Dominanz Italiens auch einer Reihe von Gemälden aus Ostafrika mit Darstellungen von Kampfhandlungen im imperialistischen Abessinienkrieg von 1939 bis 1941, die ein gegenläufiges Narrativ zur heroischen Rhetorik der italienischen Kolonialpropaganda bilden. An wechselnden Standorten wurde das Museum, abhängig von den Erfolgen und Niederlagen der italienischen Kolonialpolitik in Äthiopien, Eritrea, Libyen und Somalia, mehrfach strategisch umgestaltet.
Die nach der 1971 erfolgten Schließung des Museums eingelagerten Bestände sind 2017 in die Sammlung des Museo delle Civiltà zurückgekehrt, dessen Kuratoren und Kuratorinnen zurzeit eine Neupräsentation dieses unbequemen Erbes erarbeiten.
Koloniale Objekte und das Museum – eine gemeinschaftliche Initiative
Welche Geschichten erzählen die kolonialen Objekte heute? Wer sammelt solche Souvenirs aus der italienischen Kolonialzeit? Wie haben die Verbreitung und Zurschaustellung von Objekten aus den Kolonien in Italien zur Ausbildung einer nationalen Identität beigetragen? Kann ein Museum die Gewalt, die solchen Kulturgegenständen innewohnt, dekonstruieren?
Das Projekt kooperiert mit dem Museo delle Civiltà, das mit der Inventarisierung der Sammlungen begonnen hat und eine Ausstellung plant, die der Öffentlichkeit kolonialzeitliche Objekte in einer dekolonialen Perspektive präsentieren soll.
Die Forscherinnen befassen sich mit Werken italienischer Futuristen, die selbst am Äthiopienkrieg teilgenommen haben. Auch untersuchen sie von der Kunstgeschichte bisher vernachlässigte Objektkategorien, die bei der Verbreitung der kolonialen Propaganda eine Schlüsselrolle spielten – zum Beispiel seriell hergestellte Gedenkmedaillen und gedruckte Illustrationen, die ein Wunschbild der Kolonien verbreiten. Es soll zudem ergründet werden, wie das römische Kolonialmuseum diese Objekte einsetzte, um die italienische Kolonialgeschichte strategisch umzuschreiben und die italienische Bevölkerung von ihrer vermeintlichen rassischen Überlegenheit zu überzeugen.
Rom dekolonisieren – Museum und öffentlicher Raum
Rom ist mit seiner komplexen urbanen Schichtung, in der die Überreste des Römischen Reiches, des Mittealters und der Neuzeit koexistieren, eines der beliebtesten Reiseziele weltweit. Aber auch die Eingriffe der faschistischen Diktatur, wie die Errichtung großer Gebäudekomplexe und ganzer Stadtviertel, haben das Gesicht der Hauptstadt, dessen centro storico seit 1980 UNESCO-Weltkulturerbe ist, geprägt. Das Museo delle Civiltà selbst ist in einem faschistischen Gebäude untergebracht und gehört zur Satellitenstadt E.U.R., die 1942 Schauplatz für die in Rom geplante und nach Italiens Eintritt in den Zweiten Weltkrieg abgesagte Weltausstellung werden sollte. Bis heute tragen die hier angesiedelten Institutionen, Büros und Museen deutliche Aspekte faschistischer Inszenierung. In diesem propagandistisch instrumentalisierten städtischen Raum bietet das Museo delle Civiltà mit den Sammlungen des ehemaligen Kolonialmuseums und seinen thematischen Sektionen zu Vorgeschichte und Völkerkunde heute eine Plattform für ein interdisziplinäres Laboratorium, in dem der Rolle von Archäologie, Anthropologie und Kunstgeschichte zur Zeit des Faschismus nachgegangen wird.