Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Virtuelle Körper ermöglichen Blick in eine gesunde Zukunft 

Autoren
Simone C. Behrens, Joachim Tesch, Philine J. B. Sun, Sebastian Starke, Michael J. Black, Hannah Schneider, Jacopo Pruccoli, Stephan Zipfel, Katrin Giel
 
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme
Zusammenfassung
Menschen mit Magersucht leben in ständiger Angst, zuzunehmen. Betroffene tun oft alles dafür, um keinesfalls mehr zu wiegen – selbst wenn sie bereits unter den gesundheitlichen Folgen leiden oder im Alltag eingeschränkt sind. Forschende des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme und des Universitätsklinikums Tübingen haben ein Virtual-Reality-Tool entwickelt, mit dem sich eine Gewichtszunahme simulieren lässt. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die wiederholte Auseinandersetzung mit virtuellem gesundem Gewicht Personen mit Magersucht hilft, ihre Angst vor einer Gewichtzunahme zu reduzieren.

An Gewicht zuzulegen ist gerade am Anfang einer Therapie das wichtigste Ziel in der Behandlung von Magersucht. Für die Betroffenen ist jedoch genau das eine Herausforderung. Viele Patientinnen und Patienten brechen die Therapie daher frühzeitig ab, oder sie erreichen zwar ein gesünderes Gewicht, aber sind weiterhin in ihrer Lebensführung stark eingeschränkt durch exzessive Sorgen ums Essen, ihre Figur oder ihr Gewicht. Als Psychotherapeutin weiß ich, wie sehr Betroffene mit ihrer Behandlungsambivalenz kämpfen. Als Wissenschaftlerin möchte ich herausfinden, wie es dazu kommt und wie wir Betroffenen am besten bei ihrer Genesung helfen können. Das Virtual-Reality-Tool, mit dem wir ein beliebiges Körpergewicht simulieren können, hat uns dabei einen großen Schritt vorangebracht (1).

Die Grundlagenforschung lieferte den entscheidenden Hinweis

Seit vielen Jahren erforschen wir in einem interdisziplinären Team aus Computerwissenschaftlern und Psychologinnen, wie Patientinnen mit Magersucht digitale Körper wahrnehmen. Dafür haben wir Körperscans von Patientinnen angefertigt, sie also präzise vermessen und auf Basis dieser Daten untergewichtige Körper digital rekonstruiert. Dabei nutzen wir „SMPL“, ein parametrisches Körpermodell, das in der Abteilung für Perzeptive Systeme am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen entwickelt wurde. Auf Basis tausender Körperscans hat das System gelernt, die menschliche Körperform mit wenigen Werten zu beschreiben (2). So wie sich die Form eines Würfels als Produkt der Kantenlängen (a*b*c) beschreiben lässt, fasst das SMPL-Modell die Körperform eines Menschen und die vielen Varianten davon in wenigen Parametern zusammen. Mithilfe dieser Parameter ist es auch möglich, Eigenschaften wie Größe und Gewicht biometrisch akkurat zu verändern.

Mithilfe der digital rekonstruierten Körper und ausgefeilter Experimente konnten wir in einer früheren Studie zeigen, dass die untergewichtigen Patientinnen beim Anblick ihres virtuellen Avatars ihr eigenes Gewicht sehr präzise bestimmen können (3). Der Befund war spannend, widerspricht er doch der gängigen Vorstellung, dass von Magersucht Betroffene ihr Untergewicht nicht richtig wahrnehmen würden. Beim Aufbereiten der Daten fiel uns damals ein Nebenbefund ins Auge: Vor dem Studientermin, bei dem die Patientinnen die Gewichtsvarianten ihrer Körper zu sehen bekamen, hatten sie auf Angstskalen hohe Werte angegeben. Nach dem Studientermin ging es ihnen aber deutlich besser. Vor allem die Auseinandersetzung mit den gesünderen Körpern, so die Rückmeldung, empfanden die Patientinnen als sehr hilfreich und spannend.

Eine Simulation soll zeigen, warum gesundes Gewicht so schwierig ist

Es ist schwierig, Patientinnen und Patienten mit Magersucht zielgenau darin zu unterstützen, sich mit dem Behandlungsziel eines gesunden Körpers auseinanderzusetzen. Im Gespräch und in der Vorstellung stößt man schnell auf hoch automatisiertes Vermeidungsverhalten. Als Ausweg entwickelten wir die Idee, die Betroffenen mithilfe einer Simulation in einen virtuellen gesunden Körper zu versetzen. Die Simulation in Virtual Reality unterstützt die Personen dabei, sich an den Anblick und das Empfinden eines gesunden Körpers zu gewöhnen. Aus unserer Sicht war essenziell, dass sich dabei das Gefühl einstellt, ebendiesen simulierten Körper mit gesundem Körpergewicht selbst zu besitzen. Für die Entwicklung wählten wir eine schrittweise, nutzerzentrierte Herangehensweise, um Design-Entscheidungen strukturiert abzuwägen und zu evaluieren (4). Der erste zentrale Schritt war dabei die Erstellung eines Prototyps und das Einholen von Nutzerrückmeldungen.

Auf Basis von Vorbefunden (3, 5) und um die flexible Nutzung in der Klinik zu ermöglichen, entschieden wir uns, auf die Nutzung eines Körperscanners und die dadurch ermöglichte exakte Passung der Körperform und des Aussehens zu verzichten. Stattdessen induzieren wir das Gefühl, den virtuellen Körper zu besitzen, mit biometrisch akkuraten Körperproportionen sowie mit akkurater Echtzeit-Animation des virtuellen Körpers. In unserem am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme entwickelten Virtual Reality Tool wird ein biometrisch akkurates individuelles SMPL-Körpermodell in Echtzeit mithilfe manuell eingegebener anthropometrischer Daten (Größe und Gewicht) erzeugt (6). Spezielle Virtual-Reality-Sensoren messen die Position und Orientierung der Virtual-Reality-Brille, der Hände, der Oberarme und der Hüfte. Das Tool nutzt diese Daten, um den virtuellen Körper in Echtzeit zu animieren und in einer stereoskopischen virtuellen Welt darzustellen.

Ermutigende Rückmeldung von Nutzern

In unserer im Sommer 2023 in der Fachzeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics publizierten Studie haben wir im nächsten Schritt Nutzerrückmeldungen zu unserem Virtual-Reality-Tool erhoben (1). Hierfür haben wir 24 gesunde Frauen mit ausgeprägten Figur- oder Gewichtssorgen sowie 20 Frauen mit Magersucht untersucht. Den gesunden Frauen zeigten wir 15 Minuten lang einen Körper, der 30 Prozent mehr Gewicht hatte als ihr eigener. Die Patientinnen absolvierten je vier Sitzungen zu je 30 Minuten virtueller Exposition mit gesundem Körpergewicht. Die Teilnehmerinnen berichteten tatsächlich das Gefühl, den virtuellen Körper zu besitzen, außerdem berichteten 95 Prozent der gesunden Frauen und 85 Prozent der Patientinnen Angstsymptome wie Schwitzen, Herzrasen, Gedankenrasen oder negative Erinnerungen. 95 Prozent der Patientinnen berichteten, dass sie die Erfahrung als hilfreich empfunden hatten.

So eindeutig und ermutigend die Rückmeldungen zur technischen Umsetzung unseres Virtual-Reality-Tools waren, die individuellen Reaktionen auf den simulierten gesunden Körper unterschieden sich deutlich zwischen den Patientinnen: Knapp die Hälfte berichtete von hoher Anspannung, die rasch nachließ. Etwa ein Drittel reagierte zunächst mit geringer Anspannung, die sich aber steigerte, je mehr sie sich auf die Situation einließen. Manche Patientinnen schließlich erlebten den Anblick gar nicht als unangenehm. Im nächsten Schritt wollen wir nun die Datenerhebung in einer größer angelegten klinisch-experimentellen Studienserie ausweiten und untersuchen, welche Mechanismen bei welchen Patientinnen die Angst vor einer Gewichtszunahme aufrechterhalten beziehungsweise reduzieren.

Literaturhinweise

Behrens SC, Tesch J, Sun PJB, Starke S, Black MJ, Schneider H, et al.
Virtual reality exposure to a healthy weight body is a promising adjunct treatment for anorexia nervosa
Psychotherapy and Psychosomatics. 2023;92(3):170-9
Loper M, Mahmoud N, Romero J, Pons-Moll G, Black MJ.
SMPL: A Skinned Multi-Person Linear Model
ACM Transactions on Graphics. 2015;34(248)
Mölbert SC, Thaler A, Mohler BJ, Streuber S, Romero J, Black MJ, et al.
Assessing body image in anorexia nervosa using biometric self-avatars in virtual reality: Attitudinal components rather than visual body size estimation are distorted
Psychological Medicine. 2018;48(4):642-53
Behrens SC, Streuber S, Keizer A, Giel KE
How immersive virtual reality can become a key tool to advance research and psychotherapy of eating and weight disorders
Frontiers in Psychiatry. 2022;13
Piryankova IV, Wong HY, Linkenauger SA, Stinson C, Longo MR, Bulthoff HH, et al.
Owning an overweight or underweight body: distinguishing the physical, experienced and virtual body
PLoS One. 2014;9(8):e103428

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