Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Die Zukunft des klassischen Konzerts: Formate, Publika, Digitalität
Deutschland ist nach wie vor das Land mit der höchsten Dichte an Konzert- und Opernhäusern weltweit. In die öffentliche Förderung der klassischen Musik fließen erhebliche Summen an Steuergeldern. Es ist daher von politischer wie gesellschaftlicher Relevanz, wenn seit den 1990er Jahren regelmäßig von einer Krise des klassischen Konzerts die Rede ist, als deren Symptome ein schrumpfendes, überaltertes und gesellschaftlich wenig diverses Publikum angeführt werden.
An der Abteilung Musik des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik beschäftigen wir uns – teils auch in internationalen Kooperationen – auf vielfältige Weise mit dem Konzert, seiner Krise und den Potenzialen von liveness. Wir verfolgen zum einen die Frage, welche Arten des Musikhörens und Musikerlebens ein Livekonzert ermöglicht und wie sich diese von der Musikrezeption mittels anderer Medien entscheiden. Zum anderen wollen wir untersuchen, welche Effekte einzelne Bestandteile des Konzertformats auf das Erleben haben und wo Potenziale für eine Weiterentwicklung der Konzertform vor dem Hintergrund sich wandelnder soziokultureller und technologischer Rahmenbedingungen liegen könnten. Wir arbeiten dabei nicht nur interdisziplinär, sondern auch eng mit Künstlern und Künstlerinnen und Praktiker- und Prakterinnen zusammen.
Corona-Notlösung oder künstlerischer Eigenwert? Konzertstreams
Für eine Gruppe von Formaten haben wir uns zuletzt besonders interessiert: Konzertstreams.[1] Audiovisuelle Konzertübertragungen und -aufzeichnungen gibt es zwar schon länger, und in Deutschland gehen die Berliner Philharmoniker mit ihrer Digital Concert Hall bereits seit 2008 konsequent den Weg der Digitalisierung. Doch während der Coronapandemie, als über eine lange Zeit der Besuch von Livekonzerten gar nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich war, experimentierten Musiker und Musikerinnen sowie Institutionen unter Ausnutzung vor allem digitaler Technologien auf ganz neue Weise mit den Möglichkeiten dieses Mediums. Auch wenn die Konzerthäuser mittlerweile wieder geöffnet haben, stellt sich die Frage, welche dieser künstlerischen Experimente vielleicht nachhaltig sind und bisherige Konzertformate in Zukunft auf attraktive Art ergänzen könnten.
Wir haben uns in einer Reihe von Studien dem Bereich (digitaler) Konzertstreams im Hinblick auf ihre Formen, ihre möglichen Publika sowie ihr Erleben im Vergleich zu Livekonzerten gewidmet und dabei Ansätze der Marktforschung, der kulturwissenschaftlichen Medienanalyse und der Musikpsychologie zusammengeführt. Zunächst haben wir das neue künstlerische Feld der Konzertstreams in einer umfangreichen vergleichenden Analyse kartografiert (Weining u. a., in Begutachtung). Die Erfahrungen und die Präferenzen von Stream-Publika in Bezug auf dabei herausgearbeitete wichtige Formataspekte haben wir dann in einer groß angelegten Umfrage untersucht – der ersten zu diesem Thema überhaupt. Die Daten von mehr als 1.600 Teilnehmenden ermöglichten es uns, drei Typen von Konzertstream-Konsumenten und Konsumentinnen zu unterscheiden (Egermann u. a., in Begutachtung): Die „Puristen“ wünschten sich Konzertstreams möglichst als getreues Abbild eines Livekonzerts, und die „Digitalkonzert-Enthusiasten“ interessierten sich stark für die spezifischen medialen und künstlerischen Potenziale von Streams. Die „weniger Engagierten“ dagegen zeigten insgesamt keine große Begeisterung für Konzertstreams – und wenn, dann präferierten sie kürzere und inhaltlich wie visuell aufbereitete Formate.
Nicht nur die Musik, sondern auch das Konzertformat beeinflusst das ästhetische Erleben
In einem nächsten Schritt haben wir dann ein coronakompatibles Konzertexperiment im Internet aufgesetzt. Auf Basis ein und desselben Konzertmitschnitts wurden vier Streams erstellt, die sich in der Länge, im Einbezug von Moderation oder Online-Interaktionsmöglichkeiten für das Publikum voneinander unterschieden. Mehr als 500 der Teilnehmenden an unserer Umfrage schauten einen der Streams zuhause an und berichteten dann mittels eines Fragebogens über ihr Erleben. Tatsächlich führten die Formatunterschiede zu Unterschieden in Bezug auf bestimmte Dimensionen des Publikumserlebens.[2] So konnte soziale Interaktion auf einer Onlineplattform das Fehlen des physischen Zusammenkommens mit anderen in einem Livekonzert wenigstens teilweise kompensieren, und die Moderation führte zu einem besseren Verständnis der Inhalte und einem stärkeren Erleben bestimmter für die Musik relevanter Empfindungen. Außerdem hoben die Formate, die nicht einfach nur eine Dokumentation des Livegeschehens waren, das Erleben aller drei Publikumstypen auf dasselbe Level, glichen also Präferenzunterschiede aus.
Zukunftsmusik
Wir setzen diese Forschungen auch nach Corona fort: So konnten wir ein künstlerisches Experiment der Kammerphilharmonie Frankfurt am Main wissenschaftlich begleiten, bei dem es um den Direktvergleich einer Liveaufführung und einem zeitgleichen Stream ging. Im Ergebnis bevorzugten zwar fast alle ganz grundsätzlich die Livebedingungen, kamen aber auch zu sehr differenzierten Aussagen über die genuinen visuellen und akustischen Qualitäten des Streams.[3] Weitere Konzertexperimente sind bereits geplant.
Unsere Ergebnisse werden nicht nur wissenschaftliches Neuland betreten, sondern sind auch von Relevanz für die künstlerische Weiterentwicklung des (klassischen) Konzerts sowie die öffentliche Debatte über das zukünftige Aufgaben- und Anforderungsprofil der Institutionen der klassischen Musik in Deutschland.