Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Arbeit als erstes Lebensbedürfnis? Eine Kultur- und Emotionsgeschichte der späten Sowjetunion, 1960-1980 

Autoren
Oberländer, Alexandra
Abteilungen
Forschungsbereich Geschichte der Gefühle
Zusammenfassung
Für die Kommunistische Partei war Arbeit das „erste Lebensbedürfnis“ und zugleich Pflicht, sie war Erfüllung und zugleich der Weg in den Kommunismus. Doch was hielten eigentlich diejenigen Leute von der Arbeit, die sie Tag für Tag verrichten mussten?

Stellen Sie sich vor, Kurt Cobain steht in einem Keller, schaufelt Kohle von einem Kohlehaufen in einen riesigen Ofen und sagt in die Kamera, wie befriedigend er diese Tätigkeit findet. Unwahrscheinlich? In Aleksei Uchitel’s Dokumentarfilm „Rok“ aus dem Jahre 1989 sehen wir Viktor Tsoi, den Leadsänger der vermutlich bis heute einflussreichsten sowjetischen Rockband „Kino“, genau das tun. Tsoi war Heizer im Keller eines Wohnheims für Frauen, die für den „Ersten Reparatur und Bautrust“ der Stadt Leningrad arbeiteten. Der Heizungskeller erlangte Berühmtheit unter dem Namen „Kamchatka“, nachdem Tsoi ihm einen Song gleichen Titels gewidmet hatte. Heute ist der Heizungskeller ein Museum und eine Pilgerstätte für „Kino“-Fans – die „Kotelnaja Kamchatka“.

Jobs ohne Bedeutung? 

Viele Kunstschaffenden in der späten Sowjetunion arbeiteten als Heizer oder Heizerin, in der Hausmeisterei oder als Nachtwärter und Nachtwärterinnen, weil ihnen diese Arbeitsstellen eine gewisse Freiheit gewährten: Man leistete zwei bis drei Schichten die Woche und verbrachte den Rest der Zeit mit anderen Tätigkeiten wie Musik schreiben, Konzerte organisieren, Gedichte verfassen und ähnlichem. Andere wiederum fanden aufgrund ehemaliger Verurteilungen oder wegen ihrer politischen Anschauungen keine anderen Stellen und mussten notgedrungen solche Tätigkeiten übernehmen. Derartige Jobs wurden gemeinhin von subkulturellen Milieus oder Marginalisierten bespielt. Es gab keine Aufstiegschancen und man bekam den Mindestlohn – mehr nicht.

Man könnte also meinen, es wären schlicht Jobs ohne allzu viel Bedeutung gewesen – solche, die man ableistete, um danach seiner eigentlichen Berufung nachzugehen. Doch Tsoi fand Gefallen an seinem Dasein als Heizer. Während er im Film die Kohlen in den Ofen schaufelte, erzählte er in die Kamera:

„Die Arbeit ist eine, wenn du so willst, echte Arbeit. Ich meine, du siehst wirklich die Früchte deiner Arbeit. Du hast keine Chefs und so. Soll heißen, ich sitze nicht in irgendeinem Baubüro, zeichne was und keiner versteht, warum überhaupt das alles. Aber hier, hier schaufelst du Kohle in den Ofen … Und die Leute, die da oben wohnen, denen wird warm davon, das heißt, hier liegt alles offen zutage.“

Narrativ der “gesellschaftlichen Nützlichkeit” 

Tsoi mochte seine Arbeit als Heizer, weil sie unmittelbaren Nutzen für andere hatte. Obwohl er für seine regimekritischen Texte bekannt war, bediente er hier ein klassisches Narrativ der Sowjetunion, nämlich das der „gesellschaftlichen Nützlichkeit“ von Arbeit. Im Nachvollzug solcher und ähnlicher Gefühle („sich nützlich fühlen“ oder „sich in der Arbeit wie zuhause fühlen“) versucht sich mein Buchprojekt an einer Revision der sowjetischen Geschichte. Einer der bekanntesten Witze über die Sowjetunion, die bis heute erzählt werden, lautet: „Sie tun so, als würden sie uns bezahlen, und wir tun so, als würden wir arbeiten.“ Die Sowjetunion gilt bis heute als ein Land der Ineffizienz, der niedrigen Produktivität und des Schlendrians. Doch deckt sich das nur selten mit den Lebenserfahrungen und Erinnerungen genau dieser Leute, die eben noch selbst augenzwinkernd genau diesen Witz erzählt haben. Der sowjetische Alltag war eine endlose Abfolge verschiedenster Arbeiten: vom Kartoffel- und Tomatenanbau im eigenen kleinen Garten, von der Hilfe, die man seinem Nachbarn bei dessen Hausbau leistete, von endlosen Reparaturen der Elektrogeräte, die zu gerne kaputt gingen, oder vom Nähen modischer Kleidung bis hin zum Haushalt. Oder man jonglierte gleich mit zwei Jobs. Darüber hinaus gab es auf der regulären Arbeit genug zu tun und zusätzlich oft genug Überstunden, freiwillige Arbeitseinsätze und nicht zu wenige Betriebsversammlungen. Mit anderen Worten: „Der sowjetische Mensch“ arbeitete eigentlich schlicht die ganze Zeit, weil die sowjetische Ökonomie ihre ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten hervorbrachte.

Identitätsstiftende Wirkung von Arbeit 

Es gilt einerseits eine Bestimmung der Arbeit innerhalb der sowjetischen Ökonomie zu versuchen, der Schwerpunkt aber liegt im Nachvollzug einer genuin sowjetischen Atmosphäre rund um die Arbeit. Arbeit in der Sowjetunion vergesellschaftete die Bürger und Bürgerinnen, sie sorgte für Teilhabe und stiftete Gemeinschaft. Arbeit wurde in der Tat für viele zum „ersten Lebensbedürfnis“. Diese Emotions- und Kulturgeschichte der Arbeit wird aufzeigen, welche identitätsstiftenden Wirkungen womöglich für immer verloren gingen, und zugleich nachweisen, dass von der Sowjetunion mehr übrig geblieben ist, als es das postulierte „Ende der Geschichte“ für möglich hielt. Man denke nur an die Entgrenzung von (Lohn-)Arbeit, die doch sehr an neoliberale Arbeits- und Gesellschaftsmodelle von heute erinnert.

Literaturhinweise

Oberländer, A.
"To be a woman is hard work": The changing landscape of gendered emotions in the late Soviet Union.
L'Homme: Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 32(2), 79-96 (2021)
Oberländer, A.
Working faces, facing work: Portraying workers at work and the search for the Soviet individual.
Soviet and Post-Soviet Review, 48(2), 211-234 (2021). DOI: 10.1163/18763324-bja10027
Oberländer, A.
Cushy work, back-breaking leisure: Late Soviet work ethics reconsidered.
Kritika: Explorations in Russian and Eurasian Studies 18(3), 569-590 (2017). DOI: 10.1353/kri.2017.0036

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