Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie

Mathematische Modelle: Schlüssel zum besseren Verständnis von Infektionskrankheiten

Autoren
Domenech de Cellès, Matthieu
Abteilungen
Forschungsgruppe Epidemiologie der Infektionskrankheiten
Zusammenfassung
Wir nutzen mathematische Modelle, um die Dynamik von Krankheitserregern wie SARS-CoV-2 und deren Wechselwirkungen untereinander und mit dem Immunsystem zu erforschen. Diese Modelle, gefüttert mit Daten von Gesundheitsbehörden, ermöglichen neue Einsichten in die Verbreitung von Krankheitserregern und die Effektivität von Impfungen. Unsere Studien zeigen, wie sich beispielsweise die gegenseitige Beeinflussung von Erregern auf Impfstrategien auswirken kann und betonen die Bedeutung des Impfzeitpunkts, besonders bei Kindern und in unterschiedlichen geografischen Regionen.

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie

Im Mai 2023 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO den Gesundheitsnotstand wegen der Corona-Pandemie aufgehoben. Wir haben gelernt, mit dem SARS-CoV-2-Erreger zu leben. Was das Zusammenleben mit Infektionserregern wie SARS-CoV-2 oder den Erregern von Masern, Keuchhusten oder Windpocken genau bedeutet, ist Forschungsgegenstand in unserer Arbeitsgruppe.

Viren oder pathogene Bakterien rufen nicht einfach nur eine Erkrankung hervor. Sie nehmen Einfluss aufeinander und damit auf das Immunsystem ihrer Wirte. Ihre Ausbreitung wird durch Umwelteinflüsse befördert oder behindert. Impfungen gegen ein Virus können Einfluss nehmen auf die Ausbreitung eines anderen Virus. Solche Aspekte sind bisher wenig erforscht, haben aber große Bedeutung für das Gesundheitswesen.

Um diese Sachverhalte besser zu verstehen, setzen wir Infektions- oder Transmissionsmodelle ein, mathematische Modelle, mit denen sich die Ausbreitung von Infektionserregern berechnen lässt. Dazu verwenden wir epidemiologische Daten, die von den Behörden erhoben wurden. Diese Daten speisen wir in unsere Computermodelle ein und entwickeln Hypothesen, wie sich Infektionserreger unter bestimmten Voraussetzungen verbreiten. Wenn wir die Ergebnisse der Modellierungen gegen die in der Realität erhobenen Daten spiegeln, können wir erkennen, wie exakt die Modelle arbeiten und wie wir die Parameter ändern müssen, um ihre Genauigkeit zu steigern. Was sehr abstrakt klingt, kann für die Praxis des Public Health jedoch von großer Bedeutung sein.

Mathematische Modelle: Ein neues Werkzeug der Infektionsforschung

In einer unserer jüngsten Publikationen haben wir untersucht, wie SARS-CoV-2 mit anderen Krankheitserregern interagiert [1]. Für Infektionsbiologen ist es schon eine große Herausforderung, die molekularen Mechanismen, die einer Infektion durch einen einzelnen Erreger zugrunde liegen, im Labor zu entschlüsseln. Vergleichbare Mechanismen im Hinblick auf die gegenseitige Beeinflussung zweier verschiedener Erreger zu untersuchen, ist noch schwieriger und erfordert weitere personelle und materielle Ressourcen.

Mithilfe mathematischer Modelle können wir wiederum simulieren und vorhersagen, wie sich bestimmte individuelle Interaktionsmechanismen auf der Ebene von Populationen auswirken. Für SARS-CoV-2 haben wir ein solches Übertragungsmodell entwickelt. SARS-CoV-2 ist ein relativ neuer Erreger und die epidemiologischen Daten sind stark durch verschiedene Hygienemaßnahmen und Impfungen beeinflusst. Sobald sich das Infektionsgeschehen in den kommenden Jahren normalisiert hat, werden wir aber eine breite Datenbasis haben, um unser Übertragungsmodell zu verfeinern und zu validieren. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto genauer können wir Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen SARS-CoV-2 und anderen Erregern machen. So können wir zum Beispiel die Impfzeitpunkte an die Co-Zirkulation zweier Erreger anpassen.

Solche Erkenntnisse sind von großer Bedeutung für die Gesundheitsvorsorge. Dies konnten wir beispielsweise im Fall von Windpocken nachweisen. Windpocken werden durch das Varicella-Virus hervorgerufen. In den Ländern mittlerer Breiten wie in Mitteleuropa oder in den USA weiß man, dass es zu einem Höchststand an Windpockenerkrankungen gegen Ende des Winters kommt, denn einen wesentlichen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat in diesen Gegenden die Temperatur.    

Einfluss auf Impfstrategien    

Aber wie verhält es sich in tropischen Ländern, in denen die Temperatur das ganze Jahr mehr oder weniger konstant ist? Unser Interesse richtete sich auf Kolumbien. Anhand von Modellierungen stellten wir fest, dass saisonal variable Niederschlagsmengen der ausschlaggebende Faktor für Windpockeninfektionen sind [2]. Wegen seiner komplexen Topografie hat Kolumbien sogar verschiedene Zonen, in denen der Höhepunkt der Windpocken-Infektionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftritt. Dieses Wissen wird Einfluss auf die Planung zukünftiger Impfkampagnen haben. Derzeit gibt es noch keinen optimalen Zeitpunkt für Windpockenimpfungen in Kolumbien, dank unserer Modelle werden diese Zeitpunkte aber, je nach Region, bestimmt werden können.

Stärkung der individuellen und öffentlichen Gesundheit durch den richtigen Impfzeitpunkt

Impfungen an Kindern stehen besonders im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit, denn hier wird ein – wenn auch geringer – Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Menschen vorgenommen, die noch nicht einwilligungsfähig sind. Der Nutzen einer Impfung sollte also größtmöglich sein und nicht beispielsweise durch den falschen Impfzeitpunkt geschmälert werden. Untersucht haben wir diese Problematik am Beispiel Keuchhusten [3]. Bei dieser Krankheit können werdende Mütter, wenn sie gegen Keuchhusten geimpft sind, den Immunschutz auf ihr Neugeborenes übertragen. Trotzdem müssen auch die Kinder nach einer relativ kurzen Zeit selbst geimpft werden. Erfolgt diese Impfung zu früh, wirkt der durch die Impfung der Mutter erworbene Schutz negativ nach: Die Impfung der Säuglinge ist unter Umständen nicht effektiv, man spricht von einem Abstumpfungs-Effekt. Unsere Modellierungen sind an dieser Stelle sehr hilfreich, denn sie geben klare Hinweise darauf, welcher Impfzeitpunkt unter den gegebenen Bedingungen der Beste ist, sodass Kinder nach dem Abklingen der von der Mutter übernommenen Immunität sicher vor Keuchhusten geschützt sind.

Die Immunbiologie hat in den vergangenen Jahrzehnten enorme Fortschritte erzielt. Wir können uns besser als je zuvor vor gefährlichen Viren und Bakterien schützen. Der positive Effekt von COVID-19-Impfungen auf die Krankheitsverläufe hat dies eindrucksvoll gezeigt. Die weitere Erforschung und der Einsatz von mathematischen Infektionsmodellen wird die Effizienz von modernen Infektionsschutzmaßnahmen noch einmal deutlich steigern, weil wir mit ihrer Hilfe aus vorhandenen Datensätzen neue und weiterführende Informationen gewinnen können.

Literaturhinweise

Wong, A.; Barrero Guevara, L.A.; Goult, E.; Briga, M.; Kramer, S.C.; Kovacevic, A.; Opatowski, L.; Domenech de Cellès, M.
The interactions of SARS-CoV-2 with cocirculating pathogens: Epidemiological implications and current knowledge gaps
PLOS Pathogens 19: e1011167 (2023)
Wong, A.; Kramer, S.C.; Piccininni, M.; Rohmann, J.L.; Kurth, T.; Escolano, S.; Grittner, U.; Domenech de Cellès, M.
Using LASSO Regression to Estimate the Population-Level Impact of Pneumococcal Conjugate Vaccines
American Journal of Epidemiology 192, 1166–1180 (2023)
Barrero Guevara, L.A.; Goult, E.; Rodriguez, D.; Hernandez, L.J.; Kaufer, B.; Kurth, T.; Domenech de Cellès, M.
Delineating the Seasonality of Varicella and Its Association With Climate in the Tropical Country of Colombia
The Journal of Infectious Diseases 228, 674–683 (2023)

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