Bundesverfassungsgericht: Geplanter Schutz hat Lücken
Ein neuer Gesetzentwurf will das Bundesverfassungsgericht besser schützen. Wo besteht Nachbesserungsbedarf?
Wer hütet die Hüter? Ein neues Gesetzesvorhaben will das Bundesverfassungsgerichts stärker gegen politische Instrumentalisierung schützen. Dazu sollen wesentliche Strukturmerkmale im Grundgesetz verankert werden. Drei Lücken bleiben jedoch bestehen, zeigt ein juristisches Expertenteam. Diese ließen sich jedoch schließen.
Kurz gefasst
Das Bundesverfassungsgericht ist derzeit hinsichtlich Struktur und Stellung kaum geschützt. Sein Status als Verfassungsorgan, seine Organisation wie Amtszeit oder Anzahl der Richterinnen und Richter, aber auch die Bindungswirkung seiner Entscheidungen sind nicht im Grundgesetz verankert. All das kann durch Gesetze, die eine einfache Mehrheit im Bundestag erfordern, geschwächt werden.
Wichtige Strukturmerkmale sollen nun im Grundgesetz festgeschrieben werden. Diese lassen sich künftig nur mit Zweidrittelmehrheit abändern und bieten einen verbesserten Schutz gegen mögliche Angriffe auf Unabhängigkeit und Integrität des Gerichts.
Nachbesserungsbedarf sehen Max-Planck-Forschende jedoch bei den Regeln zur Wahl der 16 Richterinnen und Richter, gerade im Falle von Blockaden durch Fraktionen mit Sperrminorität. Um langwierige Besetzungsverfahren und Unterbesetzung bei Gericht zu vermeiden, sollte der Ersatzwahlmechanismus überarbeitet und im Grundgesetz geregelt werden. Im Fall einer Blockade sollte der Bundespräsident Richter und Richterinnen des Verfassungsgerichts ernennen dürfen.
Die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen bedarf stärkeren Schutzes und sollte ebenfalls ins Grundgesetz übernommen werden.
Vergangenen Donnerstag beriet der Bundestag, wie das Bundesverfassungsgericht besser vor politischer Instrumentalisierung geschützt werden kann. Bislang sind Struktur und Stellung des Gerichts als Verfassungsorgan im Grundgesetz nicht geregelt. Die Unabhängigkeit und Bedeutung des Gerichts, dessen Entscheidungen Gesetze außer Kraft setzen, die Machtverhältnisse zwischen Regierung und Parlament klären und Freiheitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern verteidigen, lässt sich – bei entsprechendem politischen Willen – mit einfacher Mehrheit im Parlament schwächen oder gänzlich abschaffen (wir berichteten). Bisher sind die Regeln im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz) festgelegt.
Ziel der geplanten Reform ist es, künftige Änderungen an Organisation und Funktionsweise des Gerichts zu erschweren, indem mehr Regelungen aus dem einfachen Gesetz in der Verfassung verankert werden:
- Status des Gerichts als Verfassungsorgan
- Amtszeit der Richterschaft: 12 Jahre (keine Wiederwahl)
- Altersgrenze der Richterschaft: 68 Jahre
- Zahl der Richter und Richterinnen: 12
- Zahl der Senate: 2
- Bindungswirkung der Urteile für die öffentliche Gewalt
- Fortführung der Amtsgeschäfte bis zur Wiederwahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin
- Recht der Richterschaft, die internen Abläufe bei Gericht selbst zu regeln (Geschäftsordnungsautonomie)
Für den Fall, dass eine Richterstelle durch das zuständige Wahlorgan (Bundestag oder Bundesrat) nicht rechtzeitig neu besetzt werden kann, soll ein Ersatzwahlrecht geschaffen werden – dessen Umsetzung soll wiederum nicht in der Verfassung niedergeschrieben werden.
Expertenvotum: Guter Ansatz, bestehende Lücken
Dass nach monatelangem Ringen eine Einigung auf diese Punkte erzielt wurde, fand nicht nur unter Expertinnen und Experten Zustimmung – sondern auch beim Schützling selbst: „Das Bundesverfassungsgericht begrüßt das Bestreben des Gesetzgebers, sowohl die Dichte der das Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht betreffenden grundgesetzlichen Regelungen entsprechend derjenigen anderer Verfassungsorgane zu gestalten als auch die Funktionsbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sichern.“ 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes sei eine nähere verfassungsrechtliche Konturierung des Bundesverfassungsgerichts möglich und überzeugend. „Eine solche liegt auch deshalb nahe, weil ein Blick über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus zeigt, dass sich autokratische Bestrebungen auch und gerade gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Garantin einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung richten können“, schreibt das Gericht in seiner Stellungnahme.
Doch welchen Schutz bieten die geplanten Regelungen? Forschende im Staats- und Verfassungsrecht aus zwei Max-Planck-Instituten haben die Gesetzentwürfe auf Schwachstellen untersucht. „Ein unabhängiges und starkes Verfassungsgericht ist für die Demokratie unerlässlich. Beispiele aus Polen zeigen, wie schnell die Demokratie untergraben werden kann“, betont Dimitri Spieker, Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg (wir berichteten).
Dass neben der Geschäftsordnungsautonomie vor allem die Zahl der Senate und die Dauer der Amtszeiten ins Grundgesetz überführt werden, ist bedeutsam. „In Polen hatte die damalige PiS-geführte Regierung versucht den Obersten Gerichtshof – wohlgemerkt: nicht das Verfassungsgericht, denn dieses war entsprechend verfassungsrechtlich verankert – dadurch unter ihre Kontrolle zu bringen, dass sie die Renteneintrittsalter herabgesetzt und gleichzeitig die Zahl der Richterposten erhöht hat. Die so frei gewordenen Stellen, konnte die Regierung dann mit loyalem Personal besetzen. Das gelang vor allem deshalb, weil sie parallel auch das Ernennungsverfahren unter ihre Kontrolle brachte“, berichtet der Europa- und Verfassungsrechtler, der sich intensiv mit der Abschaffung und Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit in der EU und besonders in Polen beschäftigt.
Zerbrechliche Demokratie?
Lücke 1: Wahl und Ernennung der 16 Richter und Richterinnen nicht ausreichend abgesichert
„Das polnische Beispiel zeigt sehr deutlich, dass das Wahlverfahren zur Besetzung des Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichend abgesichert ist. Es ist auf einfachgesetzlicher Ebene geregelt und lässt sich mit einfacher Mehrheit im Bundestag ändern“, erklärt Spieker.
„Ein ordentlich besetztes Verfassungsgericht ist essenziell für das Funktionieren des Rechtsstaates. Die Wahl der Richterinnen und Richter ist in Deutschland eng an eine demokratische Legitimation durch die Wahl der beiden gesetzgebenden Organe Bundestag und Bundesrat gekoppelt“, erläutert Staatsrechtlerin Sarah Katharina Stein vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg. Daher werden die 16 Richter und Richterinnen mit einer Mehrheit von zwei Dritteln im Bundesrat oder im Bundestag gewählt. „Bisher haben die Parteien ein politisch vereinbartes rotierendes Vorschlagsrecht für eine Kandidatin oder einen Kandidaten. Die Wahl erfolgte sodann auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung der Vorschläge – auch wenn eine Wahl nicht garantiert ist.“ Dieses hohe Quorum und die ungeschriebene Praxis garantiert einen breiten Konsens über Parteigrenzen hinweg.
Problem: Blockade im Bundestag
Doch in Zeiten schwankender Mehrheiten birgt diese ungeschriebene Praxis Gefahren. Für den Fall, dass eine Fraktion über eine Sperrminorität (also über ein Drittel der Stimmen) im Bundestag verfügt, kann sie die Wahl neuer Richterinnen und Richter blockieren und die Nachbesetzung von vakanten Richterstellen unbegrenzt verzögern. Dies soll sich nun ändern. „Der Gesetzentwurf sieht vor, dass ein Ersatzwahlmechanismus zwischen Bundesrat und Bundestag geschaffen werden kann. Danach kann das Wahlrecht etwa von einem ‚blockierten‘ Bundestag auf den Bundesrat übertragen werden, wenn binnen sechs Monaten eine Kandidatin oder ein Kandidat keine Zweidrittelmehrheit auf sich vereinigen konnte“, sagt Valentin von Stosch, wissenschaftlicher Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.
Experten sehen diesen Mechanismus jedoch als nicht ausgereift an. „Der anvisierte Ersatzwahlmechanismus kann mangels näherer Ausgestaltung im Grundgesetz mit einfacher Mehrheit wieder geändert oder abgeschafft werden“, warnt von Stosch.
Problem: Kandidatenverschleiß und drohende Ränkespiele
Hinzu kommt ein weiterer Faktor für künftige Kandidatinnen und Kandidaten: „Der geplante Ersatzwahlmechanismus ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Es kommt darauf an, in welchem Organ die Wahl schneller gelingt. Das kann das hohe Ansehen der Richterinnen und Richter und letztlich des Gerichts schädigen“, sagt Sarah Katharina Stein. Wer binnen sechs Monaten keine breite Zustimmung in einem Wahlorgan findet, muss laut Entwurf nun im anderen Wahlorgan überzeugen. „Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich die Person erneut aufstellen lässt.“ So sei auch denkbar, einen bewusst unerwünschten Kandidaten ins Rennen zu schicken, um die „wahre“ Kandidatin oder den „wahren“ Kandidaten im Ersatzwege durchzusetzen oder Kandidatinnen und Kandidaten gegeneinander auszuspielen. „Nur hilfsweise die demokratische Legitimation eines Ersatzorgans zu erhalten, nachdem die ursprüngliche gescheitert ist, schwächt Kandidaten und Kandidatinnen und mittelbar das Gericht.“
Zugleich deckt der Entwurf nicht alle Blockadefälle ab. „Für das Szenario, dass Bundestag und Bundesrat infolge Sperrminoritäten blockiert sind, bietet der Gesetzesentwurf keine Lösung an“, erkennt auch Dimitri Spieker.
Lösung: Bundespräsident bestimmt Richter und Richterinnen im Blockadefall
„Hier könnte der Bundespräsident als Ersatzwahlorgan Abhilfe schaffen – aus drei Gründen: Erstens stärkt eine gewisse demokratische Rückbindung – eine Legitimationskette zum Volk – die Legitimation von Verfassungsgerichten. Der Bundespräsident ist von der Bundesversammlung, einem sehr pluralistisch besetzten Gremium, gewählt und verfügt damit über eine entsprechende Legitimation.“ Spieker fährt fort: „Zweitens hat der Bundespräsident eine sogenannte ‚Integrationsfunktion‘. Funktionell stellt er eine überparteiliche Instanz dar und entspricht damit dem konsensualen, entpolitisierten Wahlmodus unserer Verfassungsrichterinnen und -richter. Drittens, übernimmt der Bundespräsident auch in anderen Situationen eine Ersatzfunktion, so bei der Wahl des Bundeskanzlers.“
Lücke 2: Bindungswirkung von Entscheidungen nicht geschützt
Für die Expertinnen und Experten sollten nicht nur die wesentliche Regelungen zur Richterwahl im Grundgesetz verankert werden, sondern auch die Bindungswirkung Karlsruher Entscheidungen. „Die Bindungswirkung der Urteile ist jedoch besonders wichtig. Die Erfahrungen in Polen zeigen, dass genau dies ein Ansatzpunkt sein kann, um Urteilen ihre Wirkung zu nehmen“, erklärt Spieker.
In Polen sähen die Vorschriften vor, dass Urteile des Verfassungsgerichts nur dann ihre Rechtswirkungen entfalteten, wenn sie im Amtsblatt publiziert werden, was die damalige PiS-Regierung einfach unterlassen habe. Kein Abdruck, keine Rechtskraft. „Vor diesem Hintergrund ist eine grundgesetzlich abgesicherte Bindungswirkung der Urteile des Gerichts essentiell.“ Der aktuelle Entwurf sieht vor, dass das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht weiterhin bestimmen soll, wann ein Urteil Gesetzeskraft entfaltet. Hiernach ist „die deutsche öffentliche Gewalt – und damit auch jede Landesregierung – an die Entscheidungen aus Karlsruhe gebunden“, sagt der Jurist. Dazu zählen neben Entscheidungen in abstrakten und konkreten Normenkontrollverfahren vor allem Verfassungsbeschwerden. Jedoch wird dies nicht im Grundgesetz geregelt.
Lösung: Bindungswirkung im Grundgesetz regeln
„Hier wäre ein noch stärkerer Schutz möglich gewesen. Einer Regierung, der das nicht passt, könnte diese Bestimmung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändern und bestimmen, dass die ‚Außerkraftsetzung‘ des für verfassungswidrig erklärten Rechts von einer weiteren gesetzgeberischen Umsetzung abhängt.“ Damit ließen sich die Wirkungen verzögern oder gar – wie im polnischen Beispiel – durch Unterlassen der entsprechenden Maßnahmen ausschalten. Um das zu verhindern, sollte die Gesetzeswirkung von Entscheidungen aus Karlsruhe ausdrücklich im Grundgesetz geregelt und dem Zugriff einfacher Mehrheiten im Parlament entzogen sein.
Lücke 3: Gesetz über das Verfassungsgericht zu leicht abänderbar
Viele weitere Aspekte zum Verfassungsgericht bleiben weiterhin im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt, einem Gesetz, das mit einfacher Mehrheit im Bundestag geändert werden kann und nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Das will eine Initiative des Bundesrates vom September ändern. Danach sollen gerichtsbezogene Änderungsgesetze nicht mehr ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen werden. „Bislang kann der Bundesrat Einspruch erheben. Der Bundestag kann aber mit entsprechenden Mehrheiten den Bundesrat überstimmen“, erklärt Sarah Katharina Stein, Staatsrechtsexpertin aus Freiburg.
Expertinnen und Experten sehen dieses Vorgehen als zielführend an, wenn auch ungewöhnlich. „Die Zustimmung des Bundesrates ist neben der Änderung des Grundgesetzes selbst, nur in besonderen Fällen im Grundgesetz vorgegeben, nämlich wenn die Finanz-, Organisations- oder Verwaltungshoheit der Länder betroffen ist“, sagt Stein. „Die Aufnahme des Verfassungsgerichtsgesetzes in diesen Katalog ist strukturell ungewöhnlich, aber geeignet und möglich.“
Entscheidend ist das politische Momentum des Konsenses. „Sollten sich die Fraktionen im Bundestag nicht darauf einigen können, mehr Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz zu verankern, ist eine Zustimmungspflicht zur Änderung des Gesetzes sinnvoll“, sagt Dimitri Spieker. „Denn die Zusammensetzung des Bundesrates hängt von 16 verschiedenen Landtagswahlen ab und streut das Risiko eines politischen Umschwungs und einer möglichen Blockade durch verfassungsfeindliche Parteien.“
Lösungsvorschlag: Gericht entscheidet mit
Ob der politische Konsens zu weiteren Änderungen anhält, bleibt abzuwarten. Die Bundesratsinitiative wird zu einem späteren Zeitpunkt beraten werden. Wenig diskutiert werden weitere Lösungen: „So könnten Änderungen, die das Gericht betreffen, nur mit Zweidritteln der Stimmen im Parlament geändert werden“, berichtet Spieker. Oder der Gesetzgeber bindet den Schützling mit ein: „Das Gericht muss nach der „Einvernehmenslösung“ zu ihn betreffenden Gesetzesänderungen zustimmen“, sagt Valentin von Stosch. Das sei bislang gelebte Praxis – ganz ohne rechtliches Fundament. „Damit das so bleibt, könnte diese erschwerte Änderbarkeit ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen werden“, ergänzt Spieker.
Forschung und Wissenschaft ergründen rechtlich valide Wege, um das Ziel zu erreichen: mehr Resilienz für den Rechtsstaat.
Das Gesetzesvorhaben wurde in den Rechtsausschuss überwiesen. Wir berichten über den Fortgang des Verfahrens.
Michaela Hutterer
Wir haben den Artikel am 11.10.2024 aktualisiert und um den Stand der Beratungen aktualisiert.
Wir haben den Artikel am 10.10.2024 aktualisiert. In einer früheren Fassung hieß es, die Bundestagsdebatte fände am Freitag statt. Korrekt ist jedoch Donnerstag, 10.10.2024. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.