Die Anatomie des Lernens
Unser Denkorgan ist eine Dauerbaustelle. Von der Kindheit bis ins hohe Alter ändert es permanent seine Verschaltungen, um sich an Neues anzupassen. Ulman Lindenberger erforscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wie das Gehirn beim Lernen umgebaut wird. Die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen sind groß, aber lernen kann man ein Leben lang.
Text: Sebastian Kirschner
"Papa – mag – Lamas." Sacht und mit voller Konzentration führt Leo den Bleistift über die Seiten des Übungsheftes, formt Striche zu Buchstaben, Buchstaben zu Wörtern. Leo ist sieben und geht in die erste Klasse. „Schreiben kann ich gut. Ich kenne alle Buchstaben.“ Leos neunjährige Schwester Sophie kommt hinzu und meint stolz: „Ich kann schon Schreibschrift.“ Sie überlegt kurz. Dann fährt ihre Hand langsam und etwas ruckartig über das Papier: Wir sitzen zusammen und üben schreiben.
Für uns Erwachsene ist Schreiben so selbstverständlich wie Kopfrechnen, Schwimmen oder Radfahren. Dabei vergessen wir oft, dass wir diese Fertigkeiten als Kinder erlernen mussten, dass es dauerte, bis unser Gehirn das Einmaleins verinnerlicht, die Bewegungsabläufe automatisiert hatte. Noch vor zwanzig Jahren glaubten Psychologen, die Lern- und Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns – seine Plastizität – beschränke sich weitgehend auf Kindheit und Jugend. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?
„Natürlich ist das kindliche Gehirn viel plastischer und für bestimmte Erfahrungen besonders empfänglich“, sagt der Entwicklungspsychologe Ulman Lindenberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. „Allerdings konnten wir nachweisen, dass unser Gehirn seine Fähigkeit zu plastischer Veränderung bis ins Alter behält. Nur müssen ältere Menschen dafür mehr tun als jüngere.“
Das Gehirn passt sich an
Doch was bedeutet eigentlich plastische Veränderung? „Plastizität bedeutet hier einen Umbau des Gehirns und eine Veränderung des Verhaltens. Dazu kommt es, wenn das Leistungsniveau des Gehirns und die gestellten Anforderungen länger voneinander abweichen“, erklärt Lindenberger. Ähnlich einem Apfelbaum im Garten, der langsam, aber beständig mit dem Licht wächst, passt sich unser Gehirn zeitlebens den herrschenden Umweltanforderungen an. Neue Äste sprießen dort am stärksten, wo die meiste Sonne hinfällt. Und wie ein einzelner Ast absterben kann, wenn er nur noch im Schatten steht, können auch Gehirnstrukturen verkümmern, wenn die entsprechenden Fähigkeiten länger nicht beansprucht werden. „Plastische Veränderung kann Aufbau und Abbau umfassen“, fasst Lindenberger zusammen.
Er und seine früheren Mitarbeiter Florian Schmiedek und Martin Lövdén wollten herausfinden, wie sich geistige Fähigkeiten bei Erwachsenen am besten trainieren lassen. Für die sogenannte COGITO-Studie haben sie etwa
200 jüngere und ältere Erwachsene an mehr als 100 Tagen ins Labor geholt. Diese sollten verschiedene Knobelaufgaben am Computer lösen: möglichst schnell Zahlengruppen vergleichen, sich verschiedene Wortlisten merken oder sich die Position von Bildern einprägen und später wiedergeben.
Neue Anwendungen für Erlerntes
Die Aufgaben beanspruchten ein breites geistiges Spektrum wie Arbeitsgedächtnis, Reaktionsgeschwindigkeit und logisches Denken. Zuvor hatten die Wissenschaftler das Leistungsniveau der Studienteilnehmer dokumentiert. Auf diese Weise konnten sie den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben individuell einstellen und den Denkmarathon für jeden Teilnehmer gleichermaßen anspruchsvoll gestalten. Nach der halbjährigen Trainingsphase maßen die Psychologen das Leistungsniveau erneut.
„Das Besondere an der COGITO-Studie ist, dass wir ein sehr breites Leistungsvermögen gemessen haben. So konnten wir sehen, ob sich wirklich allgemeine Fähigkeiten nachhaltig verbessern lassen und nicht nur jene Fertigkeiten, die mit der jeweiligen Übungsaufgabe trainiert wurden“, sagt Lindenberger. Denn bis dato gab es kaum wissenschaftliche Belege dafür, dass sich das Erlernte auf andere Aufgaben übertragen lässt, wie das die Werbung für Gehirnjogging-Produkte immer behauptet.
Die Ergebnisse der Berliner Max-Planck-Forscher waren eindeutig: Der Trainingseffekt beschränkte sich nicht nur auf die geübten Aufgaben. Arbeitsgedächtnis, episodisches Gedächtnis und Denkfähigkeit verbesserten sich
auch allgemein – zumindest bei den jüngeren Studienteilnehmern. Bei den älteren Probanden steigerte das Intensivtraining vor allem das Arbeitsgedächtnis.
Wo genau im Gehirn es zu plastischen Veränderungen kam, wiesen die Wissenschaftler mit einem speziellen Verfahren der Magnetresonanztomografie (MRT) nach: Dabei wird aus den MRT-Bildern die Diffusionsbewegung von Wassermolekülen im Gehirngewebe berechnet. Aus den Diffusionseigenschaften des Gewebes ziehen die Psychologen Rückschlüsse auf die anatomische Beschaffenheit, etwa die Nervenfaserdichte.
Die Messungen deuteten darauf hin, dass sich bei den trainierten Probanden beider Altersgruppen im vorderen Teil des Corpus callosum die Anzahl der Nervenfasern erhöht hatte. Über diese Hirnstruktur, auch Balken genannt, kommunizieren die beiden Hemisphären unseres Großhirns miteinander. „Der vordere Teil des Balkens ist genau die Stelle, an der wir eine Veränderung erwartet hatten, denn bei Aufgaben wie diesen, die das Frontalhirn beanspruchen, ist vor allem die Verbindung der beiden Frontalhirnhälften aktiv“, sagt Ulman Lindenberger. Durch das Training werden die beiden Hirnhälften also stärker miteinander vernetzt.
Geistiges Training hält fit
Wer folglich als Erwachsener seine geistigen Fähigkeiten ausbauen oder zumindest behalten will, sollte sein Gehirn immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Ein Sudoku am Sonntag reicht allerdings nicht aus. Sinnvoller ist es, durch anspruchsvolle und vielseitige Hobbys geistig auf Trab zu bleiben. Hauptsache, der Kopf qualmt so richtig – im Schachclub, beim Russischlernen oder während der Klavierstunde. Und auf der nächsten Städtereise sollte das Navigationsgerät im Handschuhfach bleiben, zugunsten des guten alten Stadtplans. Räumliche Orientierungsaufgaben sind nämlich ideal, um Sinneswahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis fit zu halten und dem altersbedingten Abbau der grauen Zellen entgegenzuwirken.
Den wissenschaftlichen Nachweis dafür erbrachte das Psychologenteam um Martin Lövdén und Ulman Lindenberger mit der groß angelegten SPACE-Studie. Dafür stiegen jüngere und ältere Probanden auf ein spezielles Laufband im Keller des Instituts. Neben der körperlichen Bewegung musste die Hälfte der Studienteilnehmer durch eine virtuelle Zoolandschaft navigieren, die vor ihnen an die Wand projiziert wurde. Es galt, die einzelnen Tiergehege in einer vorgegebenen Reihenfolge aufzusuchen und dabei möglichst effektiv durch das verzweigte Wegesystem zu steuern. Vor und nach dem 14-wöchigen Training fuhren die Probanden an die Universität Magdeburg zur Magnetresonanztomografie. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, ob sich spezielle Hirnareale als Reaktion auf das intensive Üben verändert hatten.
Das Augenmerk der Forscher galt dem Hippocampus, einem evolutionsgeschichtlich alten Teil des Gehirns, der für die räumliche Orientierung wichtig ist. Im Alter von zwanzig Jahren beginnt der Hippocampus, jährlich um ein bis zwei Prozent zu schrumpfen. Entsprechend beobachteten die Forscher eine Abnahme des Hippocampus-Volumens bei den Teilnehmern, die nur auf dem Laufband unterwegs waren, ohne zu navigieren. Bei den Probanden beider Altersgruppen, die am Navigationstraining teilnahmen, gab es diese Volumenabnahme jedoch nicht. „Die erhöhten Anforderungen an die räumliche Orientierung haben den alterungsbedingten Schrumpfungsprozess des Hippocampus offenbar aufgehalten“, folgert Lindenberger.
Nun verfolgen er und sein Team das ehrgeizige Ziel, dem Gehirn beim schrittweisen Erwerb neuer Fertigkeiten zuzuschauen. „COGITO und SPACE waren Vorher-Nachher-Studien. Aber natürlich ist der Umbau des Gehirns ein dynamischer Prozess“, sagt der Forscher. Deshalb wollen die Wissenschaftler jetzt Änderungen des Gehirns und des Verhaltens gleichzeitig analysieren. In der Linkshandstudie untersuchen sie die Gehirnaktivität von Rechtshändern, während diese lernen, mit der linken Hand zu schreiben und zu zeichnen.
Maßgeblich beteiligt an dieser Linkshandstudie ist die Doktorandin Elisabeth Wenger. Sie hat die Studie seit dem Jahr 2010 mitgeplant: „Wir haben uns auf motorisches Lernen konzentriert, weil die beteiligten Hirnregionen so gut bekannt sind. So lässt sich sehr genau vorhersagen, wo im Gehirn das Linkshandtraining zu plastischen Veränderungen führen müsste“, sagt Wenger. Ein weiterer Trick der Studie war, die Probanden in der MRT-Röhre schreiben und zeichnen zu lassen und so die aktiven Gehirnbereiche individuell zu lokalisieren.
Elisabeth Wenger teilte die männlichen Studienteilnehmer – alles ausgeprägte Rechtshänder im Alter von 25 bis 35 Jahren – in zwei Gruppen. Die Experimentalgruppe musste über sieben Wochen hinweg jeden Tag die linke Hand an einem Tablet-PC zu Hause trainieren: Die Probanden schrieben vorgegebene Wörter wie „Kirschbaum“ oder „Apfelsaft“ mit links auf den Touchscreen und zeichneten geometrische Figuren auf dem Bildschirm nach. „Da sämtliche Aufgaben auf dem Tablet gelöst wurden, konnten wir die Übungserfolge exakt nachvollziehen und die Lernkurve eines jeden Teilnehmers berechnen“, erklärt Wenger.
Anders als bei bisherigen Studien legten sich die Probanden der Linkshandstudie alle zwei, drei Tage ins MRT-Gerät, damit die Wissenschaftler plastische Veränderungen während der Trainingsphase beobachten konnten. Dafür steht seit 2012 in einem Nebengebäude des Berliner Instituts ein neuer 3-Tesla-Tomograf, der eigens für die Grundlagenforschung erworben wurde. „Wir sind sehr froh, dass wir jetzt unseren eigenen Scanner haben“, sagt Lindenberger.
Die Neurowissenschaftlerin Simone Kühn betreut Wengers Doktorarbeit. Sie öffnet die Tür in den Kontrollraum des neuen MRT-Labors und zeigt auf die beiden weißen Röhren, die abgeschirmt in zwei separaten Räumen stehen. „Rechts steht unser echtes MRT-Gerät. Links haben wir noch einen Mock-Scanner – der sieht genauso aus, ist aber nur eine Plastikröhre, die Geräusche macht.“
Das Verb „to mock“ stammt aus dem Englischen und bedeutet „nachahmen“ oder „vortäuschen“. Kühn erklärt: „Die Studienteilnehmer, die zum ersten Mal in unser Labor kommen, wissen, dass das Gerät nicht echt ist.
Trotzdem proben wir mit den Neulingen hier das gesamte Experiment.“ Denn wenn Probanden zum ersten Mal mit dem Kopf voran in die enge Röhre geschoben werden und das laute Rattern des Scanners hören, sind sie aufgeregt und manchmal verängstigt. Das kann die Messungen verfälschen. „Dank des Mock-Scanners können wir gerade ältere Menschen oder Kinder in Ruhe an die Prozedur gewöhnen. Der Aufwand lohnt sich, denn die Datenqualität steigt, und wir vermeiden unnötige Aufregung“, sagt die Forscherin.
Schreibübungen im Kernspin
Auch die Teilnehmer der Linkshandstudie probten ihre Aufgaben zuerst im Mock-Scanner, bevor die richtige Messung begann. Ihren Tablet-PC durften sie allerdings nicht mit in die Röhre nehmen. Der Magnet hätte ihn zerstört. Stattdessen schrieben und zeichneten sie Wörter und Symbole mit ihrer linken Hand in ein leeres Buch, während die Aktivität verschiedener Gehirnregionen gemessen wurde.
Die Daten sind mittlerweile alle erhoben. Nun werten die beiden Psychologinnen viele Hundert MRT-Bilder aus. Die Wissenschaftlerinnen vermuten, dass zu Beginn des Trainings, wenn das linkshändige Schreiben noch
anstrengt und die volle Aufmerksamkeit der Probanden verlangt, besonders die präfrontale Hirnrinde aktiv ist. Denn hier werden komplexe Bewegungsabläufe bewusst geplant. Später, wenn sich die Bewegungen automatisieren, werden sich womöglich die motorische Hirnrinde, die willkürliche Bewegungen steuert, und das Kleinhirn umorganisieren. Letzteres spielt bei der Automatisierung von Bewegungsabläufen eine zentrale Rolle. Im Frontalhirn sollten sich dagegen eventuelle Veränderungen wieder zurückbilden. „Würden wir nur vor und nach dem Training messen, dann blieben solche kurzzeitigen Veränderungen unentdeckt“, sagt Ulman Lindenberger.
Der Max-Planck-Direktor möchte in Zukunft noch mehr solcher dynamischer Prozesse untersuchen. Mit der Linkshandstudie haben die Berliner Psychologen den Anfang gemacht. Als Nächstes werden sie erforschen, wie ältere Erwachsene oder Schulkinder das Schreiben mit der linken Hand lernen. „Das Gehirn bewältigt viele Aufgaben je nach Alter auf unterschiedliche Art und Weise. Meine Mitarbeiter und ich sehen uns weder nur als Kinderpsychologen noch als reine Alternsforscher. Wir interessieren uns für die gesamte Lebensspanne eines Menschen“, sagt Lindenberger. Durch den direkten Vergleich wollen die Forscher Lernen und Plastizität sowohl in der Kindheit als auch im Alter besser verstehen.
Lindenbergers Tochter steht gerade vor ähnlichen Herausforderungen wie die Probanden der Linkshandstudie: Sie geht wie Leo in die erste Klasse und lernt das Abc. Vielleicht schreibt sie in ihr Übungsheft: „Papa – mag – Forschen."