Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik
Ich sehe was, was du nicht sagst! Wie Sprache unsere Wahrnehmung färbt
Die Hypothese, dass unsere Muttersprache unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst, beschäftigt Wissenschaftler verschiedener Disziplinen schon lange. Der Gedanke hat seinen Ursprung in der Beobachtung, dass manche Kulturen und Sprachen Dinge anders ausdrücken, als wir es zum Beispiel im Deutschen, Englischen oder Niederländischen gewohnt sind. Forscher in der Anthropologie, der Linguistik und der kognitiven Psychologie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit solchen Befunden: Sie konnten beispielsweise zeigen, dass es in bestimmten Kulturen keine Wörter für “links” und “rechts” gibt; räumliche Relationen werden stattdessen anhand von Himmelsrichtungen beschrieben (z. B. der Wald befindet sich östlich des Flusses). In verschiedenen Experimenten konnten die Forscher zeigen, dass Sprecher solcher Kulturen dadurch auch anders über räumliche Beziehungen nachdenken als Sprecher der meisten europäischen Sprachen: Sie waren sehr gut und extrem akkurat darin, sich an Orte zu erinnern und deren genaue Lage im System der Himmelskoordinaten einzuschätzen [1].
Neue Methoden haben in den letzten Jahren eine präzisere Untersuchung des Phänomens möglich gemacht. Zu diesen Methoden zählen Reaktionszeit- und Blickbewegungsmessungen sowie neurowissenschaftliche Messtechniken wie fMRT oder EEG. Mit fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) misst man zum Beispiel, wo im Gehirn ein bestimmter Stimulus verarbeitet wird. Dies ermöglicht es zu untersuchen, inwiefern unter verschiedenen Bedingungen sprachrelevante Gehirnareale in Wahrnehmungsvorgängen involviert sind. Durch EEG (Elektro-Enzephalographie) sieht man hingegen, wann ein Stimulus wie verarbeitet wird und wie schnell sprachliche Prozesse mit ins Spiel kommen.
In der Abteilung "Neurobiologie der Sprache" am MPI für Psycholinguistik werden genau solche Methoden angewandt, um der Frage nach der Interaktion von Sprache und Wahrnehmung nachzugehen. Zunächst werden dabei Sprachen, die sich in bestimmten Aspekten des Lexikons oder der Grammatik unterscheiden, miteinander verglichen. Darauf aufbauend stellt sich dann die Frage, ob und inwiefern Sprecher dieser Sprachen bestimmte Dinge oder Situationen unterschiedlich wahrnehmen. Diese Frage lässt sich auch untersuchen, wenn man nicht die Sprache, sondern den Betrachtungsgegenstand und die Wahrnehmungsbedingungen variiert.
Untersuchungen mit Sprechern einer Sprache: Wo im Gehirn werden Wort und Bild integriert?
Jolien Francken und ihre Kollegen haben untersucht, ob Bewegungsverben, wie ‚steigen’ oder ‚fallen’, einen Einfluss darauf haben, wie akkurat Probanden die Bewegungsrichtung von Objekten beurteilen. Dazu haben sie Muttersprachler des Niederländischen bewegte Bilder betrachten lassen (Punkte, die sich entweder alle in die gleiche Richtung (kohärent) oder in unterschiedliche Richtungen (inkohärent) bewegten (Abb. 1). Kurz zuvor wurde ein Wort gezeigt, welches entweder bewegungskongruent oder bewegungsinkongruent war [2]. Ein Beispiel: Das Wort 'steigen' wäre bewegungskongruent im Falle von Punkten, die sich nach oben bewegten; das Wort 'fallen' wäre gepaart mit denselben Punkten bewegungsinkongruent. Die Frage war dann, ob bewegungskongruente Wörter Probanden bei der Beurteilung der Bewegungsrichtung der Punkte helfen würden oder nicht. Mithilfe von fMRT konnten sie außerdem feststellen, wo im Gehirn – wenn überhaupt – sprachliche und visuelle Informationen integriert werden.
Bewegungskongruente Verben führten tatsächlich zu einer schnelleren und akkurateren Wahrnehmung der Bewegungskohärenz der Punkte. Registriert wurde die Reaktionszeit und die Zahl der richtigen/falschen Antworten. Interessanterweise war dieser Vorteil jedoch nur zu erkennen, wenn die Punkte im rechten visuellen Feld präsentiert wurden und dementsprechend in der linken Gehirnhälfte verarbeitet wurden. In Einklang mit diesen Ergebnissen, fanden Francken und ihre Kollegen im linken mittleren Temporallappen, einem zentralen Bestandteil des „Sprachsystems“, erhöhte Aktivität in der kongruenten Bedingung, was darauf hinweist, dass dieser Teil für die Integration von beiden Informationen und letztlich für die beobachteten Reaktionszeit- und Genauigkeits-Effekte verantwortlich ist. Die gleichen Effekte wurden übrigens auch gefunden, wenn die Wörter gar nicht bewusst von Probanden verarbeitet wurden [3]. Insgesamt zeigen diese Experimente, dass das Sprachsystem im Gehirn auch bei der Wahrnehmung von Bildern automatisch involviert ist.
Sprachvergleichende Untersuchungen: Ereigniskognition
Bei der Beschreibung komplexerer Ereignisse, wie der Beschreibung einer Bewegung, spielen nicht nur Nomen, sondern auch Verben und deren grammatikalische Form eine wichtige Rolle. Sprachen unterscheiden sich auch hier fundamental, sogar wenn sie genetisch eng verwandt sind. Deutsch und Englisch zum Beispiel markieren zeitliche Aspekte eines Ereignisses auf unterschiedliche Weise. Im Englischen gibt es eine grammatikalisierte „Verlaufsform“: a woman is walking. Durch die ‚ing’-Endung des Verbs wird das Ereignis als im Verlauf präsentiert. Im Deutschen hingegen ist dieses Konzept nicht grammatikalisiert, obwohl es Formen gibt, ein Ereignis im Verlauf zu beschreiben: „eine Frau läuft gerade“ oder „ eine Frau ist am Laufen“ [4].
Ob auch sprachliche Unterschiede in Bezug auf eine eher abstrakte und komplexe Kategorie die Wahrnehmung von Ereignisabläufen beeinflussen, wurde kürzlich in einem Projekt untersucht. In einer Reihe von Experimenten konnten Monique Flecken und ihre Kollegen aus Deutschland und Großbritannien zeigen, dass Sprecher des Deutschen und des Englischen Bewegungsereignisse systematisch anders beschreiben (Abb. 2).
Bei der Beschreibung von Videoclips wie in Abbildung 2, konzentrieren sich Sprecher des Englischen auf die in der Szene dargestellte Phase des Bewegungsereignisses (im Fall Abb. 2: a woman is walking along the road), während deutsche Sprecher den angestrebten Endpunkt in ihre Ereignisdarstellung integrieren (Eine Frau geht auf ein Gebäude zu). Blickbewegungsmessungen zeigten, dass deutsche Sprecher ihre visuelle Aufmerksamkeit konsequent stärker auf den Endpunkt fokussierten als englische Muttersprachler, welche vor allem die Frau fokussierten [5].
In einer Folgestudie wurde untersucht, ob der Effekt der grammatischen Struktur auf die Wahrnehmung von Bewegungsereignissen auch ohne explizite Beschreibungsaufgabe repliziert werden kann. Den Probanden (englische und deutsche Muttersprachler) wurden kurze Animationen gezeigt, in denen sich ein Punkt entlang einer Bewegungsbahn auf eine geometrische Form (Endpunkt) zubewegte (Abb. 3). Dem folgte ein Bild, welches das Ereignis statisch darstellte. Die Beziehung zwischen Animation und Bild wurde so variiert, dass sich unterschiedliche Übereinstimmungsmuster ergaben: Manchmal hatte der Endpunkt in dem Bild die gleiche Form wie in der Animation, manchmal die Bewegungsbahn und manchmal beide. So war es möglich zu beobachten, ob Muttersprachler des Englischen verglichen mit Deutschen unterschiedlich auf diese Übereinstimmungen reagierten.
Während des Experimentes wurde die Gehirnaktivität mittels EEG gemessen. Deutsche Teilnehmer zeigten unter der Endpunkt-Übereinstimmung eine stärkere Reaktion (stärkerer positiver Ausschlag im EEG) als für die Bewegungsbahn-Übereinstimmung. Bei den englischen Teilnehmern gab es hingegen keinen Unterschied. Deutschsprachige Probanden richteten ihre Aufmerksamkeit also deutlich stärker auf Endpunkte als englischsprachige Teilnehmer. Damit liegt eine Korrelation mit den Sprachproduktionsdaten und Blickbewegungsdaten vor, die ihrerseits auf den Einfluss unterschiedlicher grammatischer Strukturen zurückgeführt werden können [6].
Verbsemantik
In einem laufenden Teilprojekt liegt der Fokus auf der Verbsemantik. Im Deutschen sowie im Niederländischen wird die genaue Position eines Objektes beschrieben, wenn man dessen Standort beschreibt: „Die Flasche steht / liegt auf dem Tisch“. Im Englischen ist das nicht der Fall („There is a bottle on the table“). In einer ersten EEG-Studie konnte gezeigt werden, dass Niederländer der Position eines Objektes mehr Aufmerksamkeit schenken als Engländer und Diskrepanzen bezüglich der Position von Objekten dementsprechend genauer und schneller wahrnehmen. Probanden (Muttersprachler des Niederländischen, sowie Muttersprachler des Englischen) wurden diesmal Bilder von Gegenständen auf einem Tisch gezeigt. Wenn einem Bild von einer auf dem Tisch stehenden Flasche eines mit einer liegenden Flasche folgte, waren bei den Niederländern frühe Wahrnehmungsprozesse von diesem Unterschied beeinflusst; dies war nicht der Fall bei Muttersprachlern des Englischen.
Dies zeigt nochmals, dass die Einzelsprache in ihren vielfältigen Ausprägungen in Lexikon und Grammatik einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung hat.
Fazit
Die oben aufgeführten Studien zeigen, dass sprachliche Effekte auch dann auftreten können, wenn es keine direkte Sprechabsicht gibt; das Sprachsystem im menschlichen Gehirn ist oft automatisch bei der visuellen Verarbeitung involviert. Sprachliche Strukturen, mit denen man von Geburt an aufwächst, haben einen großen Einfluss auf kognitive Prozesse, die zunächst nicht sprachlich erscheinen, wie zum Beispiel die visuelle Wahrnehmung. In den Kognitionswissenschaften wird angenommen, dass wir in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen aus unseren Erfahrungen lernen und dass diese Erfahrungen letztendlich unsere Kognition, unser Erleben strukturieren. Sprache ist ein großer und wichtiger Bestandteil dieser Erfahrungen, weshalb es eigentlich kein Wunder ist, dass Sprache in gewissem Maße unsere Wahrnehmung färbt.