Rote Listen für mehr Vogelschutz
Hans-Günther Bauer kämpft seit mehr als 20 Jahren gegen den Rückgang vieler Vogelarten und setzt sich für mehr Wildwuchs in der Landwirtschaft, in Wäldern und Gärten ein
Wir sprachen mit dem Koordinator des nationalen Rote-Liste-Gremiums Vögel darüber, warum viele Vogelarten in Deutschland bedroht sind, wie regionale Konzepte greifen und internationale Zusammenarbeit aussieht.
Herr Bauer, wie entsteht die Rote Liste?
Hans-Günther Bauer: Feldornithologen und Vogelbeobachter aller Bundesländer zählen die Vögel in ihren Regionen und übermitteln die Bestände und Trendangaben an den Dachverband Deutscher Avifaunisten in Münster. Das Rote-Liste-Gremium ermittelt dann aus den aufbereiteten Daten den Grad der Gefährdung jeder Vogelart.
Derzeit beginnt wieder die Datenabfrage und -sammlung für die nächste Rote Liste. Die Gefährdungseinstufung für die Brutvögel entsteht jetzt in einem Turnus von sechs Jahren im Rahmen der internationalen Berichtspflichten für die EG-Vogelschutzrichtlinie. Die letzte Brutvogelliste wurde zwar erst 2016 publiziert, die nächste ist jedoch schon für 2020 geplant. Die Rote Liste für wandernde Vogelarten, die erstmals 2014 vorgelegt wurde, soll es in Zukunft alle zwölf Jahre geben.
Jetzt lassen sich Vögel nicht so einfach zählen …
Es gibt eine Vielzahl von Methoden, die ich nur kurz umreißen kann. Bei den „Koloniebrütern“ wie beim Kormoran, den Seeschwalben oder Möwen ist dies je nach Koloniegröße noch verhältnismäßig leicht. Bei anderen Arten erfolgt die Zählung zum Beispiel entlang standardisierter, begehbarer Routen, die man in einer bestimmten Zeit abläuft, oder mit ähnlichen Methoden. Bei schwierigeren Arten erfolgt eine Zählung durch Spezialisten auf repräsentativen Probeflächen.
Als Methoden kommen auch aufwändige Revierkartierungen zum Tragen, bei denen Vogelbeobachter mindestens sieben Mal in ein Gebiet gehen und dieses komplett erfassen. Alle dabei gesehenen und gehörten Vögel werden dann in eine Karte eingetragen und die Ergebnisse für alle Kartierungen auf eine gemeinsame Karte übertragen, die dann übermittelt wird.
Alle ehrenamtlichen Mitarbeiter, die uns unterstützen, verfügen über exzellente Artenkenntnisse und kennen die Stimmen der heimischen Vögel. Der Trend geht neuerdings dahin, die Feldmethoden zu vereinfachen, diese jedoch weiterhin zu standardisieren, um mithilfe komplexer Statistikmethoden Bestandszahlen und Trends ermitteln zu können. Die Nachvollziehbarkeit der Daten und die genaue Kenntnis von Fehlerquellen und Einflussfaktoren hat sich als unabdingbare Voraussetzung für die Qualität der Zählergebnisse herausgestellt.
Bleiben die Kriterien für die Rote-Liste-Kategorisierung immer gleich?
Nein. Obwohl das Grundgerüst auf solidem Fundament steht, prüfen wir immer wieder, ob die Kriterien und Definitionen allen Anforderungen weiterhin genügen oder verbessert werden müssen. Tatsächlich haben wir vor, für die nächste Liste ein, zwei kleine Dinge zu ändern.
Was wollen Sie konkret ändern?
Wir wollen auch Arten berücksichtigen, die keine starken Veränderungen im Brutbestand zeigen, die aber sehr wohl regionalen Veränderungen unterliegen. Manche sind aus bestimmten Gebieten verschwunden, was wir bisher nicht gut in unserem Bewertungssystem unterbringen. Der Ortolan wäre ein Beispiel dafür; die spatzenähnliche Ammer hat mittlerweile viele Bundesländer im Westen und Nordwesten als Brutvogel verlassen und sich in den Nordosten zurückgezogen, wo sich große Bestände konzentrieren. Das regionale Verschwinden ohne größeren Bestandsverlust möchten wir in der kommenden Roten Liste fachlich berücksichtigen können.
Welchen Bedrohungen sind Vögel in Deutschland ausgesetzt?
In einem verregneten und kalten Frühling wie diesem Jahr sterben viele Jungtiere, da die Eltern zu wenig Nahrung finden. Nach sehr milden Wintern treiben zudem die Pflanzen aus und blühen früher. Die Insekten vermehren sich ebenfalls früher als sonst und erreichen ihre Bestandspeaks bevor die Vögel mit ihren Bruten soweit sind. Wenn sich dieser Trend der Desynchronisation durch den Klimawandel fortsetzt, werden die natürlichen Mortalitätsraten unter den Jungvögeln weiter steigen. Hinzu kommen natürlich viele weitere Verlustfaktoren, die hier zu diskutieren den Rahmen sprengen würden.
Dazu kommt, dass es immer weniger Insekten gibt. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Die drastische Intensivierung der Landwirtschaft verhindert oft die mehrjährige Entwicklung mancher Insektenlarven bis zum Adultstadium, die Felder werden ‚überdüngt‘ und der Lichtsmog durch menschliche Siedlungen und Städte wirkt sich negativ auf die Insektenbestände aus. Darüber hinaus werden massiv Pestizide gegen Wirbellose eingesetzt, gebietsweise auch biologische Bekämpfungsmittel zum Beispiel gegen Stechmücken in Flussgebieten, wie am Oberrhein und anderswo.
Wie wenig Insekten inzwischen bei uns fliegen, mag jeder etwas ältere Bürger schon daran erkennen, dass wer früher mit dem Auto übers Land fuhr, regelmäßig die Windschutzscheibe putzen musste. Heute bleiben die Scheiben auch nach langen Fahrtstrecken 'unbefleckt'.
Es gibt viele weitere Ursachen für Insektenarmut, zum Beispiel auch das weitgehende Fehlen über längere Zeit vernässter Überschwemmungsflächen, in denen sich Insekten vermehren können.
Welchen Einfluss hat die Land- und Forstwirtschaft?
Unsere Kulturlandschaft wird immer eintöniger und immer nutzungsintensiver. Nicht zuletzt im Zuge der Biogasgewinnung heißt es heute Mais, Mais und nochmals Mais. Ein weiteres Problem ist das frühe Umpflügen der Äcker im Herbst und die Aussaat des Getreides noch vor dem Winter. Die Flächen sind dann im Winter für die Vögel als Nahrungsflächen kaum mehr geeignet. Die früher häufigen Stoppelbrachen, in denen manches Getreide und andere Wildblumen nochmals kurz austreiben konnten, existieren kaum mehr. Dadurch finden Vögel auf offenem Feld keinen Schutz mehr, die Sämereien fallen als Herbst- und Winternahrung weg. Im Frühjahr wachsen diese Felder dann rasch hoch und werden sehr schnell dicht. Das ist vor allem problematisch für Vögel, die auf offenem Feld brüten oder jagen. Es gibt dann zu wenige offene Flächen und Störstellen, ferner wenig Randstreifen mit samentragenden Wildblumen oder auch Hecken. Der ‚Wildwuchs‘ fehlt. So treten im Spätsommer kaum noch Ernteverluste auf.
Im Wald wird das Umtriebsalter immer weiter verkürzt, inzwischen werden auch schon 100-jährige Bäume geschlagen. Es bleibt viel zu wenig Altholz stehen, das wesentlich insektenreicher und für Waldspezialisten viel interessanter wäre als die jungen Bestände, von denen es immer mehr gibt. Auch gibt es nicht ausreichend Totholz. Forste werden neuerdings vermehrt auch zur Brutzeit bearbeitet und Bestände immer intensiver zur Brennholzgewinnung genutzt. Eine abwechslungsreiche Struktur mit heimischen Bäumen unterschiedlichen Alters, vor allem mit einem hohen Anteil sehr alter Bäume und Zerfallsstadien, wäre jedoch für eine hohe Biodiversität – nicht nur unter Vögeln - dringend nötig.
Warum unterscheidet die Rote Liste zwischen Brutvögeln und wandernden Vogelarten?
Zum einen addieren sich zu den Problemen, die heimische Vögel bei uns haben, die Schwierigkeiten, mit denen wandernde Vogelarten konfrontiert sind. Dies betrifft ihre Rastgebiete auf dem Weg in den Süden und ihre Wintergebiete. In afrikanischen Ländern wächst beispielweise die Bevölkerung sehr stark, die landschaftliche Nutzung, die Ausbreitung der Wüsten und der Landschaftsverbrauch nehmen dadurch regional enorm zu. Deshalb geht es Vögeln, die weite Strecken zurücklegen und außerhalb Deutschlands zusätzlich auf passende Rast- und Überwinterungsgebiete angewiesen sind, jetzt noch schlechter als Arten, bei denen sich die Gefährdungsfaktoren nur auf unseren Raum konzentrieren.
Zum anderen rekrutieren sich die bei uns aufhaltenden Vögel aus verschiedenen Brutgebieten. Unsere Brutvögel weisen oft andere Bedingungen, andere Trends und Häufigkeiten auf als die bei und rastenden, überwinternden oder durchziehenden Vögel, die daher anders bewertet werden müssen.
Wenn heimische Vögel immer weniger Nahrung finden, kann eine ganzjährige Fütterung in den Gärten helfen?
Ich bin kein Verfechter der ganzjährigen Fütterung. Was im Winter gut ist, kann den Tieren im Frühling sogar schaden, vor allem wenn an Futterplätzen zu wenig auf Hygiene geachtet wird. Zur Brutzeit brauchen Singvögel kein Körnerfutter, sondern Insekten, Spinnen oder Würmer, die aber kaum verfüttert werden. Viel wichtiger ist es meiner Meinung nach daher für abwechslungsreiche Kulturlandschaften und Gärten zu sorgen, die den Tieren Lebensräume, Brutmöglichkeiten und ausreichend Nahrung bieten. Für mich hat daher der Erhalt und Schutz strukturreicher, nahrungs- und deckungsreicher Landschaften Priorität vor Fütterungen.
Was bewirkt die Rote Liste?
Ich würde mir mehr Einfluss auf den Artenschutz wünschen. Klar ist: Die Roten Listen sind als Fachgutachten sehr anerkannt und werden sehr wichtig genommen, zumindest formell. Für viele als gefährdet identifizierte Arten wird politisch tatsächlich auch mehr getan.
Erfolge haben Naturschützer vor allem bei einigen großen Arten erzielt, den „Flaggschiffarten des Naturschutzes“. So hat man vor einigen Jahrzehnten viele Großvögel als gefährdet auf die Rote Liste gesetzt und sie gezielt unter Schutz gestellt. Tatsächlich geht es jetzt Arten wie dem Rotmilan, Uhu oder dem Wanderfalken deutlich besser. Auch Fischadler, Kranich und Weißstorch haben von den intensiven Schutzmaßnahmen profitiert und konnten schon aus der Roten Liste entlassen werden.
Anderen Arten wie beispielsweise dem Rebhuhn sieht man dagegen in vielen Gebieten beim Aussterben zu, obwohl sie schon lange auf der Roten Liste stehen. In der offenen Kulturlandschaft waren die bisherigen Maßnahmen völlig unzureichend. Das muss sich im Zuge der EU-Agrarreform dringend ändern. Der Schwarzstirnwürger ist in Deutschland bereits ganz verschwunden; er und andere Langstreckenzieher, die auf große Insektenarten spezialisiert sind, wie auch Blauracke oder Rotkopfwürger, sind seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in vielen Gebieten West- und Mitteleuropas sehr selten geworden oder fast vollständig im Bestand erloschen. Nicht nur für diese Insektenfresser muss mehr getan werden, auch um die Schwalben und Mauersegler sieht es sehr düster aus.
Die Zahl der gefährdeten oder vom Aussterben bedrohten Vogelarten hat sich also leider nicht verringert. Während manche der großen Arten sich erholt haben, sind nun andere, kleinere Arten betroffen, die früher sehr häufig waren und daher meist nicht so viel Aufmerksamkeit genossen, wie Feldlerche, Rauchschwalbe oder Feldsperling. So traurig es ist: Wir tun bei Weitem nicht das Optimum, um die Vogelwelt als Ganzes zu schützen!
Artenschutz macht nicht vor Grenzen halt. Wie funktioniert ihre Zusammenarbeit mit der Weltnaturschutz-Union IUCN?
Das ist eine hochinteressante Frage. Der IUCN, der die globalen Roten Listen erstellt bzw. veröffentlicht, wird dafür von den datenliefernden Arbeitsgruppen in allen Staaten unterstützt. Die in Deutschland erhobenen Bestandsdaten und Trendanalysen des DDA werden regelmäßig an BirdLife International übermittelt, das die europäische Liste erarbeitet und die Daten für die globale Liste für den IUCN zusammenstellt.
Eine kleine Kluft zur IUCN entstand allerdings, als diese das bewährte Einstufungssystem für die globale Gefährdung auch auf kontinentaler und sogar nationaler Ebene anwenden wollte. Wir haben in Deutschland dieses regionalisierte Kriteriensystem fachlich intensiv geprüft und festgestellt, dass es sich weniger gut als Instrument des Artenschutzes in unserem Land eignet. Länder wie die Schweiz, die sich dem IUCN-System angeschlossen haben, brauchen neben dieser Roten Liste noch weitere Bewertungskriterien, um gezieltere Vogelschutzmaßnahmen vor Ort anhand von Prioritätenlisten umzusetzen.
Die Fachgremien in Deutschland oder auch in Großbritannien haben dagegen eigene, gut nachvollziehbare Kriteriensysteme entwickelt. Das in Deutschland verwendete System findet über alle Organismengruppen hinweg Verwendung. Es wurde vor gut zehn Jahren vom Bundesamt für Naturschutz aus einem für die Vögel im Jahr 2002 entwickelten Vorläufersystem erarbeitet.
Herzlichen Dank für das interessante Gespräch!
Das Interview führte Barbara Abrell