„Wir wissen noch viel zu wenig über die Vogelgrippe“
Wolfgang Fiedler, Ornithologe an der Vogelwarte in Radolfzell, plädiert für mehr Forschung, um Übertragungswege besser zu verstehen
Die Vogelgrippe breitet sich in Deutschland weiter aus: Mittlerweile sind 13 Bundesländer betroffen. Der Erreger H5N8 befällt vor allem Wildvögel und Nutztierbestände. Allein in den vergangenen vier Wochen registrierten die Behörden bundesweit 16 Ausbrüche in Geflügelhaltungen, vier davon in Zoos. In Europa ist der Erreger inzwischen in zwölf Staaten nachgewiesen worden. Darüber hinaus meldeten Indien, Iran, Israel, Tunesien und Ägypten H5N8-Fälle. Epidemiologen sprechen deshalb bereits von einer Pandemie unter Wildvögeln.
Herr Fiedler, wie sieht die Situation derzeit am Bodensee aus?
Wolfgang Fiedler: Wir arbeiten eng mit rund 150 Vogelkundlern in der Region zusammen. Am Bodensee haben diese bislang rund 900 tote Vögel gezählt. Das sind deutlich mehr als beim letzten H5N1-Ausbruch vor zehn Jahren. Dennoch machen wir uns bei mehr als 200.000 überwinternden Wasservögeln derzeit keine Sorgen um die Wildpopulationen. Ihr Bestand wird durch die Vogelgrippe nicht gefährdet.
Welche Arten sind vor allem betroffen?
Rund drei Viertel der toten Vögel sind Reiherenten. Diese reagieren sehr sensibel auf eine Infektion und sterben meist innerhalb von wenigen Stunden. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass die erkrankten Tiere mehr als tausend Kilometer fliegen und so die Infektion bei uns einschleppen konnten. Tafelenten, die sehr eng mit den Reiherenten verwandt sind, sterben auch, aber viel seltener an der Vogelgrippe, ebenso wie Höckerschwäne, Haubentaucher und Blässhühner, die eher robust und deutlich seltener betroffen sind.
Wie wahrscheinlich erachten Sie eine Übertragung der Erreger durch verseuchte Futtermittel?
Meiner Meinung nach basiert Vieles an dieser Behauptung auf unbewiesenen Verschwörungstheorien.
Im Internet kursieren derzeit viele Theorien darüber, dass Seuchenausbrüche systematisch von der Geflügelindustrie vertuscht werden. Auch einzelne Wissenschaftler glauben, dass Geflügel aus landwirtschaftlichen Betrieben innerhalb Deutschlands das Virus auf Wildtiere übertragen haben könnte, zum Beispiel über Mist aus Geflügelhaltungen, der zur Düngung auf Felder ausgebracht wurde. Das mag grundsätzlich denkbar sein, erklärt aber nicht das aktuelle Geschehen. Am Bodensee wird kein Geflügelmist zur Düngung ausgebracht, dennoch sehen wir zahlreiche infizierte Wildvögel.
Beim Weitstreckentransport sieht das anders aus: Da Deutschland jedes Jahr Hühnerfleisch und Küken nach Asien exportiert, könnten Transporteure oder Transportbehälter – bei niedrigen Hygiene-Standards – mit dem Virus in Kontakt kommen und so die Infektion nach Europa bringen.
Dieser Übertragungsweg kann nicht ausgeschlossen werden, innerhalb Europas ist es jedoch unwahrscheinlich, dass sich damit das gesamte Seuchengeschehen erklären lässt. Viele Wissenschaftler vertreten wie ich daher die Auffassung, dass die Nutztierbestände tatsächlich durch Wildvögel infiziert werden können. Hier geht es vor allem um Arten wie die Stockente, die den Erreger in sich tragen können, ohne selbst allzu schwer daran zu erkranken.
Wie funktioniert dies konkret?
Der Ausgangspunkt des aktuellen Vogelgrippe-Ausbruchs liegt in Südostasien. In dieser Region wurde das H5N8-Virus auch zum ersten Mal entdeckt. Wie der Weitstrecken-Transport von dort nach Europa geschah, kann bislang nicht lückenlos aufgeklärt werden. Vieles liegt hier noch im Dunkeln und muss noch weiter erforscht werden.
Bekannt ist hingegen, dass Stockenten Influenzaviren vom Typ A, die als Ursache für die Vogelgrippe gelten, in einer niedrig pathogen Form häufig in sich tragen, das heißt sie erkranken nicht oder nur sehr leicht daran.
Nachdem das Vogelgrippe-Virus Mitte Oktober in Polen und Ungarn nachgewiesen wurde, haben möglicherweise Stockenten oder sehr eng verwandte Entenarten das Virus von dort nach Deutschland gebracht.
Im April kommenden Jahres startet das Projekt ICARUS. Weltweit sollen Wildtiere, die mit Sendern ausgestattet wurden, von der Internationalen Raumstation ISS aus überwacht werden…
Zusammen mit meinem Chef Martin Wikelski und anderen Kollegen vom Max-Planck-Institut für Ornithologie will ich den Vogelzug der Wildenten in Sibirien besser begreifen. Deshalb werden wir viele Enten mit Mini-Sendern versehen, um den Ablauf des Vogelzuges bei sibirischen Enten besser zu verstehen. Das wird neben anderen Projekten eines der ersten Forschungsvorhaben auf der ISS werden und liefert uns sicherlich auch neue Erkenntnisse über die Verbreitung der Vogelgrippe. Vom Ural brauchen die Enten lediglich wenige Tage zur Ostsee.
Im Gegensatz zum Erreger H5N1 von 2006 ist die diesjährige Vogelgrippe für den Menschen nicht gefährlich. Auf was müssen Vogelfreunde dennoch achten?
Nicht jeder tote Vogel, den wir zurzeit in der Natur finden, ist an Vogelgrippe gestorben. Betroffen sind bislang in allererster Linie Wasservögel, wie Enten, Schwäne, Gänse und Möwen. Singvögel am Futterhaus erkranken sehr selten. Wenn dies der Fall sein sollte, scheiden sie so wenig Erreger im Kot aus, dass sie als Überträger der Krankheit nicht in Frage kommen. Wichtig ist also vor allem Vorsicht im Umgang mit diesen Wasservögeln.
Am besten ist es, den direkten Kontakt mit toten Tieren zu vermeiden und den Fund direkt an das zuständige Veterinäramt des Landkreises zu melden. Dieses wird dann den Kadaver genauer untersuchen. Weiterhin sollte darauf geachtet werden, nicht über schmutzige Schuhe oder Kleidung zur unbeabsichtigten Verbreitung des Virus beizutragen. Beim Reinigen von Futterhäusern ist es sowieso immer empfehlenswert, Handschuhe zu tragen und in jedem Falle sich im Nachhinein die Hände und Unterarme gründlich zu waschen.
Herzlichen Dank für das Gespräch und die Tipps!
Das Interview führte Barbara Abrell