Allen Widerständen zum Trotz

Franziska Turck vom Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung spricht über die Botanikerin und NS-Gegnerin Elisabeth Schiemann

Im Jahr 1908 wird die in Estland geborene Elisabeth Schiemann (1881-1972) in Berlin als eine der ersten Frauen zum Studium der Naturwissenschaften zugelassen. Einer ihrer Dozenten ist der renommierte Züchtungsforscher Erwin Baur, der die Studentin für das noch junge Fach der Genetik begeistert. Bei ihm promoviert sie über Mutationen bei Schimmelpilzen, später habilitiert sie sich an der Landwirtschaftlichen Hochschule über Gerste.

Als Assistentin bei ihrem ehemaligen Doktorvater betreut sie die Getreidesammlungen, pflegt die Versuchsfelder und kümmert sich um die Doktoranden. Trotzdem übergeht Baur sie bei der Stellenvergabe. Enttäuscht trennt sie sich von ihrem ehemaligen Mentor.

Zwölfeinhalb Jahre lang forscht Elisabeth Schiemann als unbezahlte Wissenschaftlerin am Botanischen Museum. Mit verschiedenen Stipendien und teilweise bezahlter Lehrtätigkeit an der Berliner Universität hält sie sich über Wasser. Ihre Erkenntnisse veröffentlicht sie 1932 in dem Buch Die Entstehung der Kulturpflanzen. Es avanciert zum Standardwerk. Damit macht sie sich einen Namen als anerkannte Botanikerin.

Im Jahr 1943 übernimmt Elisabeth Schiemann die Leitung der Abteilung für Geschichte der Kulturpflanzen am Kaiser-Wilhelm-Institut für Kulturpflanzenforschung. Erst nach Kriegsende – mit 65 Jahren! – bekommt sie endlich eine Professur mit vollem Lehrauftrag an der späteren Humboldt-Universität zu Berlin. Im Jahr 1953 wird ihre Abteilung als „Forschungsstelle für Geschichte der Kulturpflanzen“ von der Max-Planck-Gesellschaft übernommen und Schiemann zu deren Wissenschaftlichem Mitglied ernannt.

Den Nationalsozialismus lehnt Elisabeth Schiemann von Anfang an ab. Aus Sicht der Genetikerin äußert sie sich zur Rassenideologie, ist doch in ihren Augen die Reinerhaltung menschlicher „Rassen“ wissenschaftlicher Unfug. Ihre Vorlesungen garniert sie mit Zitaten jüdischer und russischer Autoren, sie boykottiert die Versammlungen des NSD-Dozentenbundes und prangert den nationalsozialistischen Unrechtsstaat öffentlich an. Im Jahr 1940 wird ihr im Zuge der „Säuberung der Universitäten“ die Lehrbefugnis entzogen. Sie aber geht sogar noch weiter: Gemeinsam mit ihrer Schwester Gertrud, einer Musikerin, versteckt sie die jüdischen Schwestern Andrea und Valerie Wolffenstein und rettet ihnen damit das Leben.

Erst spät finden Elisabeth Schiemann und ihre Verdienste die ihnen gebührende Beachtung: In der Max-Planck-Gesellschaft unterstützt das Elisabeth-Schiemann-Kolleg seit 2013 besonders begabte junge Wissenschaftlerinnen nach der Postdoc-Phase. Im Jahr 2014 ehrt die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Elisabeth Schiemann mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“. Im Februar 2018 folgt die feierliche Zeremonie im Berliner Harnack-Haus der Max-Planck-Gesellschaft.

Frau Turck, was fasziniert Sie an der Botanik? Warum sind Sie Botanikerin geworden?

Die Begeisterung für die Forschung hat mein Vater geweckt, der Physik-Professor war. Bei uns zuhause wurde Wissenschaft immer hochgehalten. Ich selbst sehe mich weniger als Botanikerin, sondern mehr als Molekularbiologin. Nach meinem Studium der Biotechnologie habe ich zeitweise auch in der Krebsforschung gearbeitet. Zur Botanik bin ich eher per Zufall gekommen.

Inzwischen bin ich bekehrter Pflanzenfan. Die Pflanzenzüchtung ist entscheidend, wenn es darum geht, die Welternährung zu sichern. Darüber hinaus finde ich die Vielfalt im Pflanzenreich einfach spannend: Ein gemeinsamer Bauplan, der so viele unterschiedliche Formen und Farben hervorbringt, dazu solch verrückte Lebensentwürfe – das finde ich fantastisch!

Was fasziniert Sie an der Wissenschaftlerin Elisabeth Schiemann?

Zu ihrer Zeit hatten es Frauen in der Wissenschaft unglaublich schwer. Elisabeth Schiemann hat Geschlechterrollen überwunden. Sie war eine der ersten Frauen, die in den Naturwissenschaften zum Studium zugelassen wurden. Ich finde es großartig, welche Weitsicht sie in der Nazi-Zeit hatte und dass sie es geschafft hat, zu den populistischen Bewegungen Abstand zu halten. Dass sie zu ihrer Überzeugung stand, ist etwas, das wir uns wohl alle auch gerne zutrauen würden.

Wie hat sie es geschafft, ihren Weg zu gehen?

Auch bei Elisabeth Schiemann war wohl die Familie ausschlaggebend. Ihr Vater, der damals bekannte Historiker Theodor Schiemann, war Professor für Geschichte. So ist sie in ein Ambiente hineingewachsen, in dem Wissenschaft eine zentrale Rolle gespielt hat. Ich denke, als Arbeiterkind hätte sie es wohl nicht geschafft, auch weil sie ja lange Zeit auf eigene Kosten arbeiten musste. Elisabeth Schiemann hat nie geheiratet, sie hat sich zeitlebens ganz auf ihre Forschung konzentriert. Ob sie das so wollte oder es nicht anders ging, weiß ich nicht.

Welchen Einfluss hat Elisabeth Schiemanns Forschung auf das Gebiet der Botanik heute?

Elisabeth Schiemann hat über den Ursprung der Kulturpflanzen gearbeitet. Damit hat sie eine Forschungsrichtung definiert, die heute relevanter ist denn je. Mittlerweile stehen uns Genom-Daten zur Verfügung, die diese Forschung untermauern. Züchter gehen heutzutage oft wieder zurück an den Ursprungsort einer Pflanzenart, wo die genetische Vielfalt am größten ist. Hier finden sich etwa bestimmte Resistenzgene, die anderweitig im Laufe der Anpassung an neue Standorte verloren gegangen sind.

Die Gerste etwa stammt ursprünglich aus einem heißen, trockenen Gebiet und wurde von dort aus in kälteren Regionen eingeführt, bevor sie schließlich in Spanien kultiviert wurde. An das dortige trocken-heiße Klima wäre sie vielleicht besser angepasst, hätte sie zuvor nicht den Umweg über den Norden genommen. Die Rückkehr zu den Wurzeln ermöglicht Zugang zu den entscheidenden Genen.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert hat sich für Frauen in der Wissenschaft viel verbessert, trotzdem bleibt noch immer viel zu tun. Was sind Ihre Erfahrungen in Bezug auf Karrieremöglichkeiten von Frauen in der Wissenschaft?

Es gibt heute viele interessante Förderprogramme, die es zu Beginn meiner Karriere noch nicht gab. Zu meiner Zeit gab es in Nordrhein-Westfalen frauenspezifische Förderung als gedritteltes Postdoktoranden-Stipendium! Das war wie ein Schlag ins Gesicht.

Ganz wichtig finde ich Frauennetzwerke, in denen Frauen ganz bewusst andere Frauen fördern und für Positionen in der Wissenschaft vorschlagen. In einer idealen Welt wären gemischte Netzwerke normal, aber davon sind wir leider noch weit entfernt. Mit wenigen bewundernswerten Ausnahmen tun sich Frauen in einer Runde leichter, wenn nicht nur Männer mit am Tisch sitzen.

Was ist ihrer Meinung nach notwendig, damit sich mehr Mädchen für naturwissenschaftliche und technische Disziplinen begeistern und diese Berufe anstreben? Sind Mentoring-Programme hilfreich?

Momentan sehe ich die bedauerliche Tendenz, dass die Naturwissenschaften an den Schulen abgebaut werden. Als ich mich auf dem Elternabend an der Schule meiner Kinder einmal darüber beklagt habe, dass ein so wichtiges Fach wie Mathematik regelmäßig erst in der sechsten Stunde unterrichtet wird, bin ich bei den anderen Eltern auf Unverständnis gestoßen. Es ist sogar fast schick, in Mathe und Physik schlecht zu sein, nach dem Motto: „Wir konnten das damals auch nicht.“ Dass man Mathe später eh nicht mehr braucht, ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Gerade in der Biologie, in Fächern wie Populationsgenetik, geht es nicht ohne.

Welchen Rat würden Sie jungen Frauen geben, die überlegen, Wissenschaftlerin zu werden?

Wer eine Karriere in der Wissenschaft anstrebt und eine Familie gründen möchte, sollte sich ehrlich fragen, ob er dieser Doppelbelastung gewachsen ist. Beides unter einen Hut zu bringen ist kein Spaziergang. Es wird einem auch nicht leichtgemacht. Man muss delegieren können. Und man sollte sich jede Hilfe holen, die man kriegen kann. Meine Mutter sagte mir: „Schimpf nicht, wieviel alles kostet, Du investierst in Deine Zukunft“.

Bei uns war es immer selbstverständlich, dass sich auch mein Mann um unsere drei Kinder kümmert. Wir hatten zeitweise auch ein Au-pair, und als unser drittes Kind geboren wurde, sind meine Eltern zu uns nach Köln gezogen. In Frankreich, wo wir vorher gewohnt haben, war die Kinderbetreuung sehr viel besser. Dort war es normal, eine Tagesmutter zu haben. Es hat sich viel verändert in den letzten 10 Jahren in Deutschland. Ich hoffe, dass man heute bei uns nicht mehr schief angeschaut wird, wenn man sein Kind in einen Ganztageskindergarten bringt.

Das Gespräch führte Elke Maier


Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht