Bis zu 160.000 Corona-Infektionen in Deutschland

Eine Prognose von Leipziger Mathematikern gilt unter der Bedingung, dass sich das Sozialverhalten nicht ändert

In Deutschland geht die Entwicklung eindeutig in die richtige Richtung: Wenn sich der aktuelle Trend sinkender Neuinfektionen fortsetzt, ist in Deutschland – Stand 6. April – mit insgesamt etwa 120.000 bis 160.000 bestätigten Corona-Fällen zu rechnen. Das ergibt eine statistische Analyse von Hoang Duc Luu und Jürgen Jost, die am Leipziger Max-Planck-Instituts für Mathematik in den Naturwissenschaften forschen. Die Prognose gilt nur unter der Bedingung, dass sich die Epidemie nicht wieder schneller ausbreitet. Das ist nur zu erwarten, wenn die strikten Einschränkungen in der Wirtschaft sowie im sozialen Leben solange in Kraft bleiben, bis die Infektionszahlen nicht weiterwachsen. Die Leipziger Mathematiker erstellen auch für alle anderen Länder, für die ihnen Infektionszahlen zur Verfügung stehen, tagesaktuelle Vorhersagen. Keine belastbaren Aussagen ermöglicht ihre Analyse, wann das Ende der Epidemie erreicht wird.

Nackte Zahlen sagen selten die ganze Wahrheit. So gibt es in Frankreich bis dato nur unwesentlich mehr bestätigte Corona-Fälle als in Deutschland. Dass die Lage in unserem Nachbarland dennoch ungleich dramatischer ist, zeigt die Anzahl der Todesfälle durch Covid-19. Sie liegt dort mehr als fünfmal so hoch wie hierzulande. Gerade anhand der Daten bestätigter Infektionen lässt sich also nicht auf das ganze Ausmaß der Corona-Krise in den verschiedenen Ländern schließen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass in den verschiedenen Ländern unterschiedlich häufig auf die Infektion getestet wird. In Deutschland etwa ließen Ärzte vergleichsweise oft Proben von Verdachtsfällen auf das Coronavirus hin analysieren. Hierzulande führt Statistik also relativ viele Patienten mit allenfalls leichten Symptomen auf. Vergleiche mit anderen Ländern sind daher schwierig.

Ein Blog zur Statistik der Corona-Pandemie

„Wir haben die Daten aus den verschiedenen Ländern auf statistische Trends hin analysiert“, sagt Jürgen Jost, Direktor am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften. „So können wir die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern unabhängig von den absoluten Zahlen vergleichen.“ Die Ergebnisse der Analysen veröffentlichen Jürgen Jost und sein Mitarbeiter Hoang Duc Luu in täglich aktualisierter Form auf der Webseite ihres Instituts.

Eine entscheidende Größe in der Analyse der beiden Forscher ist die Wachstumsrate der bestätigten Infektionen. Generell liegt sie am Anfang einer Epidemie sehr hoch – auch wenn die absoluten Zahlen dann noch niedrig sind –, schwächt sich dann ab und geht schließlich gegen Null, wenn die Epidemie mehr oder weniger unter Kontrolle ist. Dabei entsprechen gleiche Werte täglicher Neuinfektionen zu verschiedenen Zeitpunkten der Epidemie unterschiedlichen Wachstumsraten, weil sich diese auf die Gesamtzahl der Infektionen beziehen. Ein Beispiel: In Deutschland gab es am 26. März und am 1. April jeweils etwa 6000 Neuinfektionen. Die Wachstumsrate war am 1. April aber schon deutlich gesunken, weil die Gesamtzahl der Infektionen inzwischen deutlich gestiegen war.

Eine deutliche Bremswirkung der Kontaktsperre vom 22. März

In der Entwicklung der Wachstumsrate erkennen Hoang Duc Luu und Jürgen Jost für Deutschland bereits um 20. März einen deutlichen Sprung nach unten – darin zeigte sich der Effekt der ersten Beschränkungen im öffentlichen Leben um den 8. März. Etwa eine Woche später registrieren sie dann erneut einen deutlichen Rückgang der Wachstumsrate, diesmal infolge der Einschnitte wie der Schließungen etwa von Schulen und Kindergärten sowie vieler Geschäfte und öffentlicher Einrichtungen um den 16. März. Und in diesen Tagen zeichnet sich bereits die deutliche Bremswirkung der Kontaktsperre vom 22. März ab.

Was die Wirkung der Einschränkungen für die Wirtschaft und für das öffentliche Leben angeht, kommen die Leipziger Forscher somit zum gleichen Ergebnis wie ein Team um Viola Priesemann am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen. Das Modell der Göttinger Forscher bestätigt ebenfalls, dass sich die Corona-Infektion in Deutschland inzwischen deutlich langsamer ausbreitet und wir die Epidemie in den Griff bekommen können, wenn wir uns noch eine Weile an die aktuellen Regeln für das soziale Miteinander halten.

Prognosen für die Gesamtzahl der Corona-Infektionen und der Todesfälle

Die Analyse der Leipziger Mathematiker ergibt zudem, dass die Ausbreitung der Infektion bei rund 120.000 bis 160.000 bestätigten Covid-19-Fällen (Stand 7. April) zum Erliegen kommen könnte. Die Zahl der möglichen Todesfälle bis zum Ende der Epidemie in Deutschland schätzen die Forscher derzeit auf etwa 4000 bis 5000 – unter der Voraussetzung, dass die Sterblichkeitsrate weiterhin so niedrig bleiben sollte wie bislang. In Italien rechnen sie mit 145.000 bis 168.000 Infizierten. Die Zahl der Todesopfer dürfte dort auf um die 20.000 steigen. Eine ähnliche Bilanz prognostizieren die Mathematiker für Spanien. „Für Frankreich sind die statistischen Schwankungen derzeit so groß, dass wir keine zuverlässige Prognose über die insgesamt zu erwartenden Fallzahlen abgeben können“, sagt Jürgen Jost.

Auch die weltweite Entwicklung haben Hoang Duc Luu und Jürgen Jost analysiert, wobei sie China außen vorgelassen haben, da die Epidemie dort zumindest den offiziellen Angaben zufolge bereits beendet ist. Im Rest der Welt ist nun aber noch mit knapp 1,9 Millionen, maximal mit 2,1 Millionen Infizierten und mehr als 170.000 Todesopfern zu rechnen.

Den ausgesprochen diffizilen Prognosen der Sterblichkeit durch die Covid-19-Erkrankung widmen die Leipziger Mathematiker in einem speziellen Bericht besondere Aufmerksamkeit. „Wir sehen den beunruhigenden globalen Trend, dass praktisch überall die Sterblichkeitsrate ansteigt“, sagt Jürgen Jost. „Das halten wir für eine sehr wichtige statistische Beobachtung.“ Er und sein Mitarbeiter haben in ihrem Blog daher einen eigenen Beitrag dazu veröffentlicht. Der Anstieg der Sterblichkeit liege demnach nicht nur an der Zeitverzögerung zwischen Ansteckung und Tod, sondern habe auch vielfältige andere Gründe, von der Überlastung der Gesundheitssysteme in einigen Ländern bis zu einer verzögerten Ausbreitung in höhere Altersgruppen, was etwa für Deutschland gelten könnte. „Die tatsächlichen Todeszahlen können also möglicherweise erheblich höher liegen als unsere auf der derzeit beobachteten Sterblichkeitsrate beruhenden Prognosen“, so Jost.

Soziale Beschränkungen dürfen nicht zu früh gelockert werden

Ihre Prognosen haben die Forscher unter der Voraussetzung berechnet, dass sich die Ausbreitung des Coronavirus nicht wieder deutlich beschleunigt, wenn die Beschränkungen sozialer Kontakte zu früh gelockert werden. Und ihre Rechnung setzt auch voraus, dass die Länder ihre Testpraxis nicht verändern. Genau das wird jedoch als eine Maßnahme diskutiert, um in der Wirtschaft sowie im sozialen und kulturellen Leben wieder mehr Normalität zu ermöglichen. Mit häufigeren Tests würde jedoch zwangsläufig auch die Gesamtzahl der bestätigten Corona-Infektionen wachsen.

Selbst für unveränderte Randbedingungen können die Forscher allerdings nicht belastbar vorhersagen, wann die Anzahl der Covid-19 stagnieren wird. „Wir können keine verlässlichen Schätzungen abgeben, wann die Epidemien in den einzelnen Ländern enden werden“, sagt Jürgen Jost. „Vermutlich werden sie so schnell überhaupt nicht enden, da man wohl nicht alle Fälle erfassen kann.“ Allerdings gehen die Leipziger Forscher davon aus, dass die Infektionszahlen nur noch sehr langsam steigen werden, wenn sich die Kurve der maximalen Zahl der Infizierten nähert. „Der von uns statistisch festgestellte Trend deutet darauf hin, dass sich die Epidemie so weit abschwächen lässt, dass die Neuinfektionen und die Anzahl der Erkrankten so gering bleiben, dass unser Gesundheitssystem damit umgehen kann.“

Diese Meldung wurde am 8. April um 16:35 aktualisiert.

PH

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