Ein Fisch auf dem Weg zu neuen Ufern
Eiszeitliche Knochen verraten, wie sich Stichlinge an neue Lebensräume anpassen
Dreistachlige Stichlinge leben sowohl im Salz- als auch im Süßwasser. Als am Ende der letzten Eiszeit die Gletscher schmolzen und neue Seen entstanden, fanden Stichlinge aus dem Meer darin neue Lebensräume. Felicity Jones und ihr Team am Tübinger Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft untersuchen, wie sich das Genom der Fische im Zuge der Anpassung verändert. 12.000 Jahre alte Stichlingsknochen liefern Einblicke in die Frühphase dieses Wandels.
Text: Elke Maier
Die Geschichte beginnt mit einem Zufallsfund: Im Frühjahr 2018 machte sich ein Geologen-Team des Norwegian Geological Survey (NGU) auf die Reise in den äußersten Norden Norwegens. Ziel der Expedition war es, Bohrkerne aus dem Sediment küstennaher Seen zu entnehmen, um sich ein Bild von den Meeresspiegelschwankungen am Ende der letzten Eiszeit zu machen. Als der Geologe Anders Romundset seine Sedimentproben im Labor durch ein feines Sieb filtrierte, fand er darin nicht nur Algen und andere Pflanzenreste. In den Maschen hingen auch die wenige Millimeter großen, knöchernen Überreste von Fischen.
Die Knöchelchen und winzigen Stacheln waren so gut erhalten, dass der Wissenschaftler gleich wusste, mit wem er es zu tun hatten: dem Dreistachligen Stichling (Gasterosteus aculeatus). Die vier bis sechs Zentimeter großen Fische kommen bis heute im Meer und in den Seen Skandinaviens vor. Mithilfe der Radiokarbonmethode ließ sich für die Knochen ein Alter von rund 12.000 Jahren ermitteln. Sie stammten also aus einer Zeit, in der weite Teile Nordeuropas noch von mächtigen Eispanzern bedeckt waren.
Als gegen Ende der Eiszeit die Gletscher schmolzen und eine gewaltige Eislast wegfiel, begann sich die Landmasse nach und nach über den Meeresspiegel zu heben. Meeresbuchten wurden dabei vom Meer getrennt und füllten sich mit Süßwasser, sodass neue Seen entstanden. In einem von ihnen hatte einst der Stichling gelebt, von dem die Knochen und Stacheln stammten. Eingebettet in das Sediment am Seegrund hatten die knöchernen Relikte die Jahrtausende überdauert.
Ein Sammelsurium alter DNA
Die Geologen übergaben ihren Fund an Andrew Foote, Evolutionsökologe an der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim. Foote, ein Experte für alte DNA, nutzte die Chance. In einem Speziallabor an der Universität Kopenhagen machte er sich mit seinem Kollegen Tom Gilbert daran, in den Knochen nach Resten der Erbsubstanz zu suchen. Eine der Schwierigkeiten war, dass die Proben längst nicht nur Stichlings-DNA enthielten, sondern auch DNA-Stücke von anderen Organismen – Pflanzen und Bakterien etwa, die damals in derselben Umgebung gelebt hatten. In diesem Sammelsurium machten die gesuchten Fragmente letztlich nur ein Prozent aus. Dennoch gelang es Foote mit großem Aufwand, die Stichlings-DNA herauszufischen und zu sequenzieren.
Für Felicity Jones, Forschungsgruppenleiterin am Tübinger Friedrich-Miescher-Laboratorium war der Erfolg ihres norwegischen Kollaborationspartners Foote ein Glücksfall. Gemeinsam mit ihrem Team untersucht die Australierin die Grundlagen von Evolution. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen herausfinden, welche molekularen Mechanismen dafür sorgen, dass sich Organismen an neue Lebensräume anpassen oder sogar neue Arten bilden können. Als Modellorganismen sind Stichlinge dafür ideal: Im Laufe der letzten 10000 bis 20000 Generationen sind Meeresstichlinge in viele verschiedene Süßgewässer wie Seen, Flüsse und Sümpfe eingewandert und haben sich an die neuen Bedingungen angepasst. So sind die kleinen Fische in den gemäßigten Klimazonen der Nordhalbkugel heute weit verbreitet.
„Das Spannende für uns ist, dass Stichlinge vom Meer aus vielfach unabhängig voneinander neue Süßwasserlebensräume besiedelt haben“, sagt Felicity Jones, die vor ihrer Tübinger Zeit schon in Schottland, Neuseeland und den USA geforscht hat. „So können wir dieselben Fragen in mehreren parallelen Systemen untersuchen und damit ausschließen, dass es sich bei den genetischen Anpassungen, die wir entdecken, lediglich um Einzelfälle handelt.“ Im Zuge der Anpassung an die neue Umgebung kam es an verschiedenen Standorten immer wieder zu ganz ähnlichen Veränderungen in der Gestalt, dem Verhalten oder der Physiologie der Fische – ein Prozess, der als parallele Evolution bekannt ist. Wie in einem riesigen Freilandlabor können die Forschenden daher an den Stichlingen die grundlegenden molekularen Mechanismen herausarbeiten, die dafür sorgen, dass sich Organismen an neue Lebensräume anpassen können.
In seinem Hauptwerk „On the Origin of Species“ lieferte Charles Darwin vor mehr als 160 Jahren erstmals eine plausible Erklärung, wie die Vielfalt des Lebens entstanden ist. Demzufolge stammen alle heutigen Arten von gemeinsamen Vorfahren ab, deren Nachfahren sich im Laufe von Jahrmillionen auf die verschiedenen Lebensräume verteilt und in unterschiedliche Abstammungslinien aufgespalten haben. Triebfeder dieser Entwicklung ist die natürliche Auslese: Von allen Nachkommen eines Lebewesens haben diejenigen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind, den größten Fortpflanzungserfolg. Sie geben daher ihre erblichen Merkmale bevorzugt an die nachfolgende Generation weiter.
Besser als Darwins Finken
Ein berühmtes Exempel für Darwins Theorie sind die Finken des Galapagos-Archipels. Ausgehend von einer Stammart haben die Vögel auf den verschiedenen Inseln ganz unterschiedliche Schnabelformen hervorgebracht, je nachdem, welche Nahrung sie nutzten. Eine solche Aufspaltung bezeichnen Evolutionsbiologen als adaptive Radiation. „Die Stichlinge sind ein weiteres Beispiel, nur viel besser“, sagt Felicity Jones und lacht. Denn anders als die Galapagos-Finken tun sie den Forschenden den Gefallen, das evolutionäre Schauspiel der Aufspaltung gleich auf mehreren Bühnen aufzuführen. So können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Spektakel immer wieder beobachten und ihre Erkenntnisse überprüfen.
Wie sich die Stichlinge im Zuge der Anpassung verändern, zeigt sich eindrucksvoll in der Ausbildung der Knochenplatten an den Körperseiten, die dem Schutz vor Fressfeinden dienen. Individuen aus dem offenen Meer, die sich vor Räubern kaum verstecken können, setzen zu ihrer Verteidigung auf eine umfangreiche Panzerung. Ihre Artgenossen im See, die Unterschlupf im Pflanzendickicht finden, sparen sich den Materialaufwand. Sie rüsten ab und tragen schließlich nur noch wenige Platten vorne am Rumpf.
Seit Darwins Zeiten hat die Evolutionsbiologie gewaltige Fortschritte gemacht. Dank moderner Analyseverfahren können Forschende heute im Genom nach den charakteristischen Spuren fahnden, die die Evolution dort hinterlassen hat. „Die meisten unserer Erkenntnisse, wie das Genom funktioniert, stammen aus dem Labor, von eigens gezüchteten Modellorganismen. Dagegen wissen wir noch immer relativ wenig darüber, wie natürlich vorkommende genetische Unterschiede die Evolution von Freilandpopulationen beeinflussen“, sagt Felicity Jones.
Urahn skandinavischer Süßwasserstichlinge
Der prähistorische Knochenfund eröffnete für das Tübinger Team und seine Forschungspartner ganz neue Möglichkeiten: Erstmals hatten sie einen Urahnen der Süßwasserstichlinge vor sich, und dieser Fisch, der vor rund 12.000 Jahren gelebt hatte, gab auch noch genetische Informationen preis. „Unseres Wissens nach sind das die ältesten Fischknochen, von denen jemals Genomdaten gewonnen wurden“, sagt Felicity Jones. „Sie öffnen ein Fenster in die Vergangenheit, so dass wir nachvollziehen können, welche genetische Variation die Tiere mitbrachten, als sie sich an ihre neuen Lebensräume angepasst haben."
Die knöchernen Relikte waren in einer Sedimentschicht gefunden worden, die den Übergang vom Salz- zum Süßwasser markiert. Der Fisch, von dem sie stammen, hatte einst im Brackwasser gelebt. Als gegen Ende der Eiszeit einzelne Meeresbuchten allmählich vom Meer getrennt wurden, blieben Stichlinge in den isolierten Gewässern zurück. Sie schafften es, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen und sich fortzupflanzen. In den unterschiedlichen Gewässern entstanden so mit der Zeit viele neue Typen, die sich von ihren Verwandten im Meer unterschieden. Rein äußerlich variierten die Fische in ihrer Körpergröße und Pigmentierung, der Länge der Rückenstacheln sowie der Größe und Zahl ihrer Knochenplatten.
Um sich ein Bild davon zu machen, was sich auf genetischer Ebene verändert hatte, verglichen die Forschenden die Erbsubstanz des eiszeitlichen Stichlings mit der seiner Nachfahren. Dafür analysierten sie Stichlinge aus zwei küstennahen Seen südlich der Stadt Hammerfest. Aus einem der Seen stammte auch der Knochenfund, der die prähistorische DNA beisteuerte. Zusätzlich sequenzierten die Forschenden die Genome von Meeresstichlingen aus derselben Gegend.
Der Vergleich ergab, dass der Eiszeitfisch seinen heutigen Artgenossen aus dem Meer genetisch stark ähnelte: „Die Knochen enthielten vor allem solche Genvarianten, die für ein Leben im Salzwasser vorteilhaft sind“, sagt Melanie Kirch, Doktorandin in Felicity Jones' Arbeitsgruppe, die einen Großteil der Genomdaten ausgewertet hat. Daneben fanden sich aber auch Varianten, die bereits eine Anpassung an das Süßwasser erkennen ließen.
Bausteine für die Evolution
Solche Genvarianten finden sich vereinzelt auch unter den heutigen Meeresstichlingen. Die Forschenden gehen davon aus, dass letztere sich hin und wieder mit Artgenossen aus dem Süßwasser paaren, etwa in den Mündungen von Flüssen. Dadurch gelangen immer wieder Süßwasser-Genvarianten in die Meerespopulation. Für die marinen Stichlinge sind diese Varianten nutzlos oder sogar unvorteilhaft und breiten sich daher nicht aus. Bei der Besiedlung neuer Süßwasserlebensräume erweisen sie sich hingegen als Joker: Kann die Evolution auf solche vorgefertigten Bausteine zugreifen, ist eine Anpassung in kürzester Zeit – im Fall der Stichlinge innerhalb von wenigen Jahrzehnten – möglich. Müssen die passenden Genvarianten dagegen erst zufällig per Mutation neu entstehen, können mitunter Millionen von Jahren vergehen.
Der Genomvergleich lieferte noch weitere Details zum Werdegang der Süßwasserstichlinge. Er ergab, dass die Fische aus den beiden Seen genetisch weniger divers waren als ihre Vorfahren aus dem Meer. Das lag zum einen daran, dass die vereinzelten Individuen, die damals die Seen neu besiedelten, nur einen kleinen Teil der Genvarianten mitgebracht hatten, die unter den Meeresstichlingen vorkamen. Zum anderen waren in den neugegründeten Populationen manche Varianten über die Zeit zufallsbedingt wieder aus dem Genpool verschwunden – ein Prozess, der als Gendrift bekannt ist. „Allein durch Zufall sind auf diese Weise sogar solche Varianten abhandengekommen, die für ein Leben im Süßwasser vorteilhaft wären“, sagt Felicity Jones. Eine solche genetische Verarmung, die typisch ist für kleine Gründerpopulationen, bezeichnen Biologen bildhaft als „genetischen Flaschenhals“.
Flaschenhals mit Folgen
Für die Süßwasserstichlinge war dieser Flaschenhals folgenreich: Genetische Variation ist das Material, aus dem die Evolution neue Anpassungen hervorbringt. Sind viele unterschiedliche Genvarianten vorhanden, kann sie aus den Vollen schöpfen. Bei den Fischen aus den beiden Seen war die Variation dagegen stark verringert: „Wir vermuten, dass sie nicht so gut an ihren Lebensraum angepasst sind, wie sie sein könnten“, interpretiert Jones die Ergebnisse.
Felicity Jones und ihr Kollaborationspartner Andrew Foote sind begeistert von den neuen Möglichkeiten, die sich mit der eiszeitlichen DNA ergeben. Sie möchten in Zukunft die Evolutionsgeschichte der skandinavischen Stichlinge weiter erforschen. Eines ihrer Ziele ist es, noch mehr prähistorische Stichlingsknochen aus jüngeren Sedimentschichten genetisch auszuwerten. „Wenn wir nicht nur Knochen von einem einzelnen Fisch hätten, sondern von mehreren, die im Abstand von hunderten Jahren gelebt haben, könnten wir direkt nachverfolgen, wie sich das Genom über die Zeit verändert hat, nachdem die Stichlinge in ihrem neuen Lebensraum angekommen waren“, sagt Felicity Jones.