Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik
Was die Gene zur Sprache beitragen
Studien über die bei Sprachforschern als „KE Family“ bekannte Familie waren ein Meilenstein auf dem Weg zum Verständnis der genetischen Grundlagen von Sprachentwicklung und Sprachstörungen [1]. Die Hälfte der Familienmitglieder hatte sowohl Schwierigkeiten sich zu artikulieren als auch Probleme beim Formulieren und Verstehen von Sprache. Erstaunlicherweise wurde diese Störung über drei Generationen so weitergegeben, dass eine Mutation in einem einzigen Gen diese Vererbung erklären konnte [1]. Im Gegensatz dazu zeigen die meisten Familien mit Sprachstörungen eine komplexere Form der Vererbung, die eine Vielzahl von genetischen Faktoren vermuten lässt und es somit erschwert, die zugrunde liegenden Gene zu bestimmen.
Wegen der Familiengröße und der einfachen Vererbungsform innerhalb der KE-Familie sowie der Entdeckung eines weiteren nicht verwandten Patienten mit einem „DNA-Doppelstrangbruch“ im FOXP2-Gen war es möglich, das für diese Sprachstörung verantwortliche Gen zu identifizieren [1]. Die Entdeckung dieses Gens mit dem Namen FOXP2 gab einen Einblick in die molekularen Signalwege, die der menschlichen Sprache und assoziierten Störungen zugrunde liegen.
Die Aktivität von FOXP2 am Modell
FOXP2 kodiert einen Transkriptionsfaktor; eine Klasse von Proteinen, die das An- und Ausschalten anderer Gene regulieren, indem sie an bestimmte Regionen der DNA binden. FOXP2 wird während der Entwicklung des Gehirns in einer Vielzahl wichtiger Netzwerke produziert, sowohl in tieferen Schichten der Großhirnrinde als auch in den darunterliegenden Kerngebieten (Basalganglien), dem Thalamus und dem Kleinhirn [2, 3]. Es wird vermutet, dass die von FOXP2 regulierten Programme innerhalb dieser Gehirnstrukturen für die normale Sprachentwicklung erforderlich sind. Daher wird die Bestimmung von Genen, die unter der Kontrolle von FOXP2 stehen, neues Licht auf die Gen-Netzwerke und funktionellen Signalwege werfen, die der Sprachentwicklung dienen. Diese Herangehensweise hilft, die genetischen Ursachen für die in der Bevölkerung viel häufiger auftretenden komplexeren Sprachentwicklungsstörungen zu identifizieren [4].
Darüber hinaus bietet sich mit diesen Untersuchungen die Möglichkeit, die molekularen Grundlagen der Sprachentwicklung zu verstehen. Da es nur sehr limitiert möglich ist, mit menschlichem Gewebe zu experimentieren, arbeiten Wissenschaftler mit Modellsystemen, um die relevanten genetischen Netzwerke definieren zu können. Der Transkriptionsfaktor FOXP2 besitzt in diversen Wirbeltier-Spezies eine sehr ähnliche Proteinstruktur und ähnliche Expressionsmuster in korrespondierenden Gehirnregionen [2, 5]. So tragen Singvögel eine FOXP2-Version, die zum Erlernen des Vogelgesangs essenziell ist [6]. Bei Mäusen beeinflusst das Gen die neuronalen Schaltungen, die beim Erlernen von Bewegungsabläufen helfen [7, 8]. Gleichartige Schaltungen liegen der menschlichen Sprache zugrunde, für die schnell-koordinierte Mund-Bewegungen erlernt werden müssen.
Mäuse stellen ausgezeichnete Modellorganismen dar, um die Funktion von Foxp2 zu untersuchen, da für sie eine breite Palette von genetischen Werkzeugen bereitsteht. Die Proteinversion der Maus (Foxp2) und die des Menschen (FOXP2) sind sich äußerst ähnlich. Sie besitzen eine identische DNA-Bindungsdomäne, was nahelegt, dass sie zu großen Teilen an denselben DNA-Regionen binden [1]. Darüber hinaus werden beide Proteine in korrespondierenden neuronalen Netzwerken während der Hirnentwicklung produziert und scheinen daher bei Mensch und Maus in einem vergleichbaren zellulären Kontext zu agieren [2]. So ergeben sich wichtige Einblicke in jene neuronalen Netzwerke, die während der Evolution zur Entstehung der menschlichen Sprachfertigkeiten rekrutiert wurden.
Entschlüsselung der genetischen Netzwerke
Sonja Vernes und Simon Fisher vom MPI für Psycholinguistik starteten ein Projekt zur exakten Bestimmung von Genen, die im embryonalen Mäusehirn von Foxp2 reguliert werden [9]. In früheren Versuchen identifizierten sie bereits einige dieser Gene in Neuronen ähnlichen Zellen, in der Zellkultur. Im Gegensatz zu zellulären Modellen konzentrierte sich die neue Studie auf Nervengewebe. Untersucht wurde die Fähigkeit von Foxp2, andere Gene zu steuern; entweder durch direkte Bindung an regulative DNA-Regionen oder durch die indirekte Kontrolle regulativer Proteine.
Studiert wurden Unterschiede zwischen Gehirngewebe normaler Mäuse, mit natürlichem Foxp2, und von Mäusen mit einer Mutation, die die Produktion von Foxp2-Protein im Gehirn verhindert [7]. Die Studie identifizierte hunderte von regulativen DNA-Regionen verstreut im Genom, die vom Foxp2-Protein gebunden werden. Gene in der Nähe dieser Regionen werden wahrscheinlich von Foxp2 an- oder abgeschaltet [9]. Durch ergänzende Experimente identifizierten die Wissenschaftler mehr als 300 Gene, deren Produktion sich in Abhängigkeit von Foxp2 veränderte. Diese stellen sowohl die direkt als auch die indirekt regulierten Gene im Gehirn dar [9]. Die veränderte Produktion einiger Schlüsselgene ist in Abbildung 1 dargestellt. Im Ganzen erstellte diese Studie die erste umfangreiche Übersicht der von Foxp2 regulierten Gene und bietet damit eine einzigartige Perspektive auf die molekularen Mechanismen, die im Gehirn ablaufen und bei Fehlsteuerung Sprachstörungen verursachen können. Kritische Gene, die von diesem Transkriptionsfaktor reguliert werden, sind erfolgversprechende Kandidaten in der Suche nach Faktoren, die bei der Störung des Sprachvermögens beteiligt sind. Einige werden zurzeit in klinischen Gruppen weitergehend untersucht.
Die Rolle von FOXP2 im sich entwickelnden Gehirn verstehen lernen
Mit der Studie wurde demonstriert, dass man die von Foxp2 im Gehirn gesteuerten genetischen Netzwerke und funktionellen Signalwege ergründen kann. Die Wissenschaftler untersuchten die von Foxp2 im Mäusehirn angesteuerten Netzwerke, indem sie die Funktion aller regulierten Gene mit Datenbanken abglichen, in denen beschriebene Funktionen einzelner Gene gesammelt werden. Gene wurden erst nach ihrer Rolle in bekannten Zellfunktionen, wie Zellmigration oder Signalregulierung gruppiert. Daraufhin wurde berechnet, ob bestimmte Funktionen signifikant überrepräsentiert sind, das heißt ob Foxp2-Gene für bestimmte Zellfunktionen überzufällig häufig reguliert werden. Zu den signifikant überrepräsentierten Funktionen gehörten Signalwege der Kommunikation zwischen verschiedenen Neuronen, der Signalweiterleitung innerhalb von Neuronen oder ganz allgemein Gene für die neuronale Entwicklung (Abb. 2) [9].
„Entwicklung neuronaler Projektionen“ (neuron projection development) befand sich unter den biologischen Themen, die innerhalb der Target-Gene von Foxp2 konstant signifikant überrepräsentiert waren. Während der neuronalen Entwicklung entstehen Neuriten, die sich später zu Axonen und Dendriten ausbilden. Sie ermöglichen es dem einzelnen Neuron, sich mit anderen Neuronen zu verbinden und Signale auszutauschen. Dieser Prozess lässt ein Netzwerk von hochspezifischen Verbindungen und Kreisläufen entstehen, die das Fundament legen für kognitive Funkionen.
Um zu testen, ob Foxp2 die Formation von Neuriten beeinflusst, entnahmen Vernes und Kollegen die Neuronen embryonaler Mäuse aus einer Region (Basalganglien) mit besonders hoher Foxp2-Expression. Diese Region ist von besonderem Interesse, da sich hier strukturelle und funktionelle Defizite in Schnittbild-Untersuchungen (Magnet-Resonanz-Tomographie) der Gehirne von Menschen mit FOXP2-Mutationen (KE Family) befinden [10].
Die Neuronen der Mäuse wurden im Labor kultiviert und das Auswachsen ihrer Neuriten direkt unter dem Mikroskop beobachtet (Abb. 3a). Die Bilder zeigten, dass Neuronen ohne funktionsfähiges Foxp2 keine normalen Neuriten formten (Abb. 3b). In Anwesenheit von normalem Foxp2 wachsen längere Neuriten, die zusätzlich mehr Verästelungen haben als die der Neuronen mit funktionsunfähigem Foxp2 (Abb. 3b) [9].
Fazit
Die hier präsentierten Forschungsergebnisse geben neue Hinweise auf die Funktion von FOXP2. Das Gen unterstützt sowohl das Längenwachstum als auch die Verästelung der Neuriten im sich entwickelnden Gehirn. Wenn das Gen beschädigt ist, wie bei den betroffenen Mitgliedern der KE Family, scheint die Entstehung von neuen neuronalen Verbindungen beeinträchtigt zu sein. Zukünftige Forschung auf diesem Gebiet wird uns helfen, die Brücke zwischen Genen, Neuronen, Netzwerken im Gehirn und unserer Sprachfähigkeit zu bauen, und erklären, wie das Genom dazu beiträgt, dass sich ein zur Sprache fähiges Gehirn entwickeln kann.