Wie das Großhirn groß wurde
Max-Planck-Forscher entdecken neuen Stammzelltyp in der äußeren Keimzone des Gehirns
Bei der Gehirnentwicklung von Säugetieren hat die Evolution einen Trick angewandt: Zusätzlich zur Ventrikularzone, die neurale Stammzellen beherbergt, bildet sich spezifisch im Großhirn eine zweite aus Vorläuferzellen bestehende Schicht, die Subventrikularzone (SVZ) - hier entsteht der Großteil der Nervenzellen der Gehirnrinde. Bei Primaten einschließlich des Menschen findet man am äußeren Rand dieser Zellschicht, der sogenanten OSVZ, einen neuralen Vorläuferzelltyp, dessen Struktur und Funktion bisher nicht verstanden war. Forscher vom Dresdner Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) haben sich diese Zellen nun genauer vorgenommen und ihre Eigenschaften offengelegt. Das sorgte für einige Überraschungen: Die OSVZ-Vorläuferzellen behalten über einen langen, dünnen Zellfortsatz Kontakt zur Basalmembran an der äußeren Oberfläche des sich entwickelnden Gehirns. Dadurch gewinnen diese Zellen Stammzelleigenschaften und können sich wiederholt teilen und so eine Vielzahl von Nervenzellen produzieren. Dazu, auch das hat das Dresdner Team aufgezeigt, wird das auf den Zellfortsätzen lokalisierte Protein Integrin benötigt. Die Max-Planck-Forscher vermuten, dass so das menschliche Gehirn seine Größe erreicht, die es von den Gehirnen anderer Säugetiere unterscheidet. (Nature Neuroscience, 2. Mai 2010)
Neurale Stammzellen in der Ventrikularzone des sich entwickelnden Gehirns haben zwei Kontakte, nämlich zur sogenannten Basalmembran an der äußeren Hirnoberfläche und zum Ventrikel - das ist der mit Hirnwasser gefüllte Hohlraum, von dem aus das Gehirn wächst. Deshalb können sich diese Stammzellen immer wieder teilen - das ist auch wichtig, denn bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns muss zunächst viel Masse angehäuft werden: Zellen, Zellen, Zellen! In der benachbarten Subventrikularzone hingegen, die bisher überwiegend in der Maus untersucht wurde, findet man jedoch neuronale Vorläuferzellen, die keine Kontakte mehr nach außen oder innen haben. Genau das schränkt ihre Teilungsaktivität ein: Sie teilen sich in der Regel nur einmal und bilden jeweils zwei Nervenzellen. Über den dritten Vorläuferzelltyp in der äußeren Subventrikularzone, die so genannten OSVZ-Vorläuferzellen, die bisher nur beim Rhesusaffen beschrieben waren, wusste man vergleichsweise wenig. "Bemerkenswerterweise behalten die OSVZ-Vorläuferzellen im Menschen ihren Kontakt zur Basalmembran", sagt Simone Fietz, Doktorandin im Labor von Wieland Huttner, einem der Direktoren am MPI-CBG, in dessen Arbeitsgruppe diese Untersuchungen durchgeführt wurden. Dieser Kontakt ist wichtig für die Fähigkeit der OSVZ-Zellen, sich zu teilen.
Möglich macht das das Protein Integrin, wie Experimente belegten. Dazu haben die Dresdner Forscher Gehirngewebe im Reagenzglas so kultiviert, dass die Entwicklung der Hirnrinde wie in der Gebärmutter ablief. "Als wir dann gezielt die Aktivität von Integrin hemmten, verloren die OSVZ-Vorläuferzellen ihre Teilungsfähigkeit", sagt Simone Fietz, die gerade an ihrer Doktorarbeit zur Nervenzellenbildung bei Säugetieren im Laufe der Evolution schreibt und die Versuchsreihen zu den nun veröffentlichten Ergebnissen zusammen mit einer anderen Doktorandin, Iva Kelava, und in Zusammenarbeit mit Forscherkollegen der Berliner Charité sowie des Dresdner Uniklinikums durchgeführt hat.
Quantität statt Qualität macht unser Gehirn groß
Bisher hatte man außerdem vermutet, dass dieser Zelltyp nur in Primaten vorkommt. Man hielt das für den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch bzw. Affe einerseits und anderen Säugetieren wie der Maus andererseits - Mäuse haben diese Vorläuferzellen nicht. Die Dresdner Forscher machten hingegen eine faszinierende Entdeckung: Sie konnten auch in Frettchen solche Vorläuferzellen nachweisen - wenn auch in weitaus geringerer Zahl als im menschlichen Gehirn. "Das ist deshalb so interessant, weil Frettchen, im Gegensatz zur Maus, ähnlich wie der Mensch ein gewundenes Gehirn mit vergrößerter Oberfläche ausbilden. Wir gehen deshalb nun davon aus, dass nicht die Qualität, sondern die Quantität dieser OSVZ-Vorläuferzellen den Unterschied ausmacht und für die Größe des menschlichen Gehirns verantwortlich ist", so Fietz und Huttner.
Neues Wissen mit medizinischem Potenzial
Auf lange Sicht sind die neuen Erkenntnisse ein wichtiger Beitrag zu einem besseren Verständnis von Ablauf und Grundlagen der Gehirnentwicklung. "Dieses neue Wissen ist jetzt natürlich noch nicht eine plötzliche Wunderwaffe gegen neurodegenerative Erkrankungen", schränkt Wieland Huttner ein. Für die Zukunft können die Forschungsergebnisse aber ein Ausgangspunkt für mögliche Therapieansätze sein. "Die Herstellung funktionierender Nervenzellen im Reagenzglas, die in einer Zelltherapie kranke Zellen ersetzen könnten, ist eine lange gehegte Vision und sie hat riesiges medizinisches Potenzial", erklärt Huttner. Will man Nervenzellen zu Therapiezwecken jedoch irgendwann einmal nachbauen, dann müssen zunächst alle Details ihrer Entstehung gut erforscht sein. Eines dieser Details haben die Dresdner Forscher nun geklärt.