Von Katastrophen gezeichnet
Das Leben im Schatten des Vesuvs ist für die Einwohner Neapels und ihre Kultur identitätsstiftend
Eindrucksvoll thront der Vulkankegel des Vesuv über Neapel – Wahrzeichen und Schicksalsberg der süditalienischen Metropole. Über Jahrhunderte haben seine Ausbrüche ebenso wie Erdbeben dort ihre Spuren hinterlassen. Wie sie die Kunst und Architektur der Stadt geprägt haben, untersucht Elisabetta Scirocco an der Bibliotheca Hertziana, dem Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom.
Text: Marc Peschke
In der neapolitanischen U-Bahnstation „Toledo“ hat der südafrikanische Künstler William Kentridge 2012 ein ganz außerordentliches Werk geschaffen. Das großformatige Mosaik „Ferrovia Centrale per la città di Napoli, 1906“ zeigt eine Prozession verschiedener Figuren aus der Geschichte der Stadt. Diese wird angeführt durch den Schutzpatron Neapels, San Gennaro, neben dem der rauchende Vesuv dargestellt ist – unschädlich gemacht durch den Schutz des Heiligen. Das international bekannt gewordene Kunstwerk in der großen Eingangshalle des U-Bahnhofs – Teil einer ganzen Reihe von künstlerischen Stationen in der neapolitanischen U-Bahn – ist äußerst faszinierend. Nicht nur als Werk der zeitgenössischen Kunst, sondern auch, weil es vielfältige Bezüge zur Stadt Neapel und ihrer Geschichte bündelt. „Reisende, die vorbeikommen“, erklärt die neapolitanische Kunsthistorikerin Elisabetta Scirocco, „nehmen an der Prozession teil, in der Kentridge die gesamte Stadt-, Kunst- und Kulturgeschichte Neapels von ihren griechisch-römischen Ursprüngen bis zur Gegenwart verdichtet hat.“
San Gennaro an der Spitze, ein christlicher Märtyrer, der in Pozzuoli bei Neapel enthauptet wurde, ist für die Neapolitaner von besonderer Bedeutung. Der Kopf des Heiligen und einige Tropfen Blut, so Scirocco, sind die wertvollsten Reliquien, die seit dem Mittelalter in der Stadt Neapel aufbewahrt werden. An den drei jährlichen Festen zu Ehren des Heiligen warten die Neapolitaner auf das sogenannte „Blutwunder“. Man hofft darauf, dass sich das Blut des Stadtpatrons verflüssigt – im Volksglauben ein gutes Omen für die Zukunft der Stadt. In Zeiten größter Gefahr wurden die Reliquien durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder bei Prozessionen zur Schau gestellt, um drohende Naturkatastrophen zu verhindern. „Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Katastrophen in die Geschichte eines Ortes einschreiben“, sagt Scirocco. „Nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Gegenwart und in die Zukunft.“ So zitiert das kraftvolle Bild von Kentridge nicht nur die Geschichte, sondern spielt auf die Bedrohung an, die immer, bis heute, über der Stadt Neapel schwebt.
Katastrophen schreiben Geschichte. Und schon sind wir mittendrin im Themenfeld, von Elisabetta Scirocco. „Neapel und die Naturkatastrophen: eine kunsthistorische Katastrophenforschung“ – lautet ihr Forschungsprojekt an der Bibliotheca Hertziana, dem Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom. Hier wurde unter der Leitung von Tanja Michalsky, Direktorin am Institut, ein Forum für neue Forschungen zu Neapel geschaffen, zu dem auch der Forschungsbereich „Neapel als Palimpsest“ gehört. „Palimpsest“ ist eigentlich der Fachausdruck für Pergamente, die im Mittelalter abgeschabt oder -gewaschen und danach neu beschrieben wurden. Übertragen auf Neapel bedeutet das: Durch die Geschichte der Stadt zieht sich als Konstante die immerwährende Veränderung: Konstruktion, Rekonstruktion, Zerstörungen durch Kriege und Naturkatastrophen sind fundamentaler Teil der neapolitanischen und süditalienischen Geschichte.
Ein kollektives Trauma
Nur partiell und zufällig sei diese Überformung der Stadt, führt Scirocco im Zoom-Gespräch aus, auch sei Neapel im Laufe der Geschichte niemals ganz zerstört worden. „Ich betrachte den ‚Palimpsest‘-artigen Charakter Neapels insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Neuformulierung nach katastrophalen Ereignissen. Es geht nicht nur um die Zerstörung und Rekonstruktion von Bauwerken, sondern auch um die Schaffung von Wahrzeichen und Ritualen im Zusammenhang mit Katastrophen.“ Beispiele dafür sind der Wiederaufbau von Kultstätten und Repräsentationsbauten, aber auch die Entstehung neuer religiöser Kulte und deren Institutionalisierung.
Wie der größte Teil des italienischen Territoriums sind Neapel und seine Umgebung erdbebengefährdet. Dazu kommt in unmittelbarer Nähe mit dem Vesuv und den phlegräischen Feldern das gefährlichste Vulkangebiet in Europa. Keine andere Stadt Italiens dieser Größe und kulturellen Relevanz war so regelmäßig katastrophalen Ereignissen ausgesetzt wie Neapel, die im 17. Jahrhundert am dichtesten besiedelte Stadt Europas. "Der Vesuvausbruch im Jahr 79 hat sich als Urkatastrophe tief in das historische Gedächtnis der Stadt eingeschrieben", erläutert Elisabetta Scirocco. Damals wurden die antiken Städte Pompeji und Herculaneum unter einer bis zu 20 Meter dicken Schicht aus Asche und Gestein verschüttet, schätzungsweise 5 000 Menschen starben. Vom 14. bis ins 20. Jahrhundert gab es in Neapel immer wieder starke Erdbeben, der Vesuv verhielt sich jedoch lange Zeit recht ruhig. Mitte des 16. Jahrhunderts galt er sogar als erloschen.
Doch 1631 kam es erneut zur Katastrophe. „Was damals mit dem Erwachen des Vesuvs geschah, einem heftigen explosiven Ausbruch, der von Erdbeben begleitet wurde, war so etwas wie die Erfahrung des bevorstehenden Endes der Welt: die Erfahrung der absoluten Zerstörung“, berichtet Scirocco. „Das kollektive Trauma wurde in Texten und Bildern festgehalten und hatte enorme kulturelle und politische Auswirkungen auf lokaler Ebene und in ganz Europa.“ Naturkatastrophen wurden damals noch nicht aus wissenschaftlicher Sicht, sondern in einem religiösen Kontext erklärt, als Bestrafung Gottes, erläutert die Wissenschaftlerin. Aus diesem Grund waren Gebet, öffentliche Buße oder Prozessionen ein wesentlicher Bestandteil dessen, was Anthropologen „Notfallrituale“ nennen. So findet bis heute jedes Jahr am 16. Dezember in der Stadt ein Fest mit einer Prozession statt, in der die Reliquien von San Gennaro mitgeführt werden – dieselben Reliquien, die 1631 in einer Prozession durch die Stadt in Richtung Vesuv getragen wurden. Der Legende nach erschien der Heilige am Himmel, als die Prozession am Rande der Stadt ankam und stoppte den Ausbruch des Vulkans. An dieser Stelle wurde für ihn ein Votivdenkmal errichtet. Viele der Städte und Dörfer um Neapel haben ihre eigenen künstlerischen und rituellen Erinnerungen an ihr Leben mit dem Vulkan.
Der Ausbruch des Jahres 1631 hatte aber noch eine andere Auswirkung: Der Vesuv wurde zu einem immer präsenten Thema in der Kunst Neapels. Nach diesem Ereignis, so Scirocco, „ist der Vesuv in die Ikonographie der Stadt Neapel eingetreten“. Die Ansichten der Stadt änderten sich nun, erweiterten sich und zeigten auch den Vulkan. Während des 18. und 19. Jahrhunderts führte das Interesse an seinen regelmäßigen Aktivitäten und Ausbrüchen zu einer riesigen Produktion von Gemälden, Zeichnungen und Studien am Vesuv. Neapel entwickelte sich zu einer der wichtigsten Stationen der Grand Tour – der obligatorischen Reise junger europäischer Adeliger und des gehobenen Bürgertums durch Mitteleuropa, Italien, Spanien und ins Heilige Land. In Neapel gehörte der Vulkan zu den Hauptattraktionen für die jungen Reisenden. All das führte dazu, dass sich die Stadt selbst mit dem Vulkan identifiziert hat. Gleichzeitig war und ist der Vesuv auch Sinnbild für die zerstörerischen Kräfte der Natur, wie 2019 etwa in der Ausstellung „Vesuvio quotidiano – Vesuvio universale“ im Museum Certosa di San Martino in Neapel zu sehen war.
Trotzdem spielte die Bedrohung durch den Vulkan bislang kaum eine Rolle in der kunsthistorischen Forschung zu Neapel. Lange Zeit konzentrierte sie sich auf die Epochen des französischen Königsgeschlechts Anjou vom 13. bis zum 15. Jahrhundert sowie auf die Barockzeit mit den prunkvollen Kirchenausstattungen und der Malerei der Neapolitanischen Schule vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Auch wurde die neapolitanische Renaissance unter dem Königshaus Aragon vorwiegend als kultureller Import bewertet und nicht als genuine neapolitanische Schöpfung. Diese Perspektive des 20. Jahrhunderts stellt die Forschergruppe an der Bibliotheca Hertziana infrage: das Bild eines gleichsam kolonialisierten Neapel, das darauf beruht, dass die Stadt von verschiedenen fremden Dynastien beherrscht wurde. Auch wurde, so Scirocco, zu lange die Abhängigkeit Neapels von Kunstzentren wie Rom und Florenz betont. Ziel des „Neapel-Forums“ der Bibliotheca Hertziana ist es daher auch, diese tradierten und kanonisierten Forschungsergebnisse kritisch zu hinterfragen und gerade die Ortsgebundenheit und die spezifischen Merkmale neapolitanischer Kunstproduktion zu betonen.
Ein Geflecht verschiedener Zeitschichten
Insgesamt ist die kunsthistorische Forschung in Neapel allerdings schwieriger als anderswo. Das liegt an der, wie es der Autor und Philosoph Walter Benjamin bereits in den 1920er-Jahren nannte, „Porosität“ der Stadt. Das Poröse, das dichte Nebeneinander, das miteinander Verwachsen unterschiedlicher Architekturen aus verschiedenen Zeitschichten, ähnelt einem Geflecht, einem lebendigen Organismus, als der Neapel im Laufe seiner Geschichte immer wieder beschrieben worden ist. Die Altstadt Neapels, die 1995 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde, ist ein Paradebeispiel für ein stark divergentes Gemeinwesen mit enormen sozialen Problemen aber gleichzeitig einem phantastischen Bestand an Kulturgütern. Überall in Neapel schichten und überlagern sich die kulturhistorischen Zeugnisse aus griechischer und römischer Zeit und späteren Epochen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Überschreibungen aufgrund immer neuer Erdbeben ist die Kathedrale von Neapel, il Duomo di Santa Maria Assunta, in der die Reliquien des neapolitanischen Stadtpatrons San Gennaro aufbewahrt werden. Der Dom, so Scirocco, vereinigt kunsthistorische Schichten von der Antike bis in das 19. Jahrhundert, was typisch für die Stadt ist.
Auch die barocke Kirche San Paolo Maggiore auf der Piazza San Gaetano ist ein hervorragendes Beispiel für die Veränderungen und Umformungen durch Naturkatastrophen. So waren hier – bis zum Einsturz nach dem Erdbeben des Jahres 1688 – größere Teile des römischen Tempels der Dioskuren erhalten. Dieser war, so Scirocco, jahrhundertelang die Kulisse für das städtische Leben: „An der Stelle der Piazza San Gaetano war bereits in der Antike erst die griechische Agora und dann das römische Forum und damit das Herz des Stadtzentrums. Bis heute spielt sich dort das private und öffentliche Leben Neapels ab. Als die Fassade des römischen Tempels 1688 einstürzte, war auf einen Schlag die Szenerie zerstört, vor der das Stadtleben jahrhundertelang stattgefunden hatte. Der Einsturz wurde in Texten und Bildern immer wieder in Erinnerung gerufen. Bei der Rekonstruktion wurde beschlossen, nur zwei Säulen des Tempels zu erhalten, wobei eine Inschrift an das Erdbeben von 1688 erinnert.“
Sciroccos Forschungsgegenstand ist aber nicht nur die Kunst des Mittelalters und der Vormoderne. Sie befasst sich auch mit dem 20. Jahrhundert wie etwa mit Andy Warhols 1985 entstandener Vesuv-Serie, einer Art „Hommage“ an den Vulkan als Symbol Neapels, die das Thema des Vulkanausbruchs in die Sprache der Pop-Art übersetzt. Scirocco hat Warhols Werk des ausbrechenden Vulkans als „Synekdoche“ bezeichnet, als ein Bild, das seit dem katastrophalen Ausbruch von 1631 für die Stadt Neapel selbst steht. Joseph Beuys wiederum fertigte für den einflussreichen italienischen Galeristen Lucio Amelio ein irritierendes Werk, das 1981 in Neapel ausgestellt wurde: „Terremoto in Palazzo“ ist eine Komposition aus vier fragilen, instabilen Holztischen, die aus dem Erdbeben geborgen wurden, Glassplittern am Boden und einem auf einem der Tische aufgestellten Ei. Ein Jahr danach, 1982, schuf Warhol die Arbeit „Fate presto“, basierend auf einer – stark vergrößerten – Titelseite der Zeitung „Il Mattino“.
Beide Arbeiten von Beuys und Warhol gehören zu einer später als „Terrae Motus“ bezeichneten Sammlung, die als Reaktion auf Lucio Amelios Aufruf an zeitgenössische Künstler entstanden, Kunstwerke zum schrecklichen Erdbeben des Jahres 1980 zu kreieren. Damals hatten heftige Erdstöße die Region Irpinia rund 80 Kilometer östlich von Neapel erschüttert, mehr als 2 700 Menschen kamen ums Leben, fast 400 000 verloren ihr Zuhause. „Die Erinnerung an das Erdbeben von 1980 und seine Folgen ist immer noch sehr präsent, ebenso wie sein medialer Nachhall, der von Warhol in ein Kunstwerk übersetzt wurde“, sagt Scirocco. „Das Datum selbst, der 23. November, ist jedem bekannt. Im vergangenen Jahr wurden zum 40. Jahrestag eine Reihe von Veranstaltungen, Debatten und Ausstellungen durchgeführt.“ So sind traumatische Katastrophen der Vergangenheit und die Gefahr der Wiederholung in der Zukunft Teil des kollektiven Gedächtnisses und der alltäglichen visuellen Erfahrung in der Stadt Neapel.
Der Vulkan als identitätsstiftendes Merkmal
Die historische Katastrophenforschung ist heute ein sehr produktives Forschungsgebiet, in dem die verschiedenen historischen Disziplinen mit denen der Sozial- und Naturwissenschaften in Dialog treten. Dieser transdisziplinäre Ansatz wurde 2014 am Kunsthistorischen Institut in Florenz, ebenfalls einem Max-Planck-Institut, entwickelt. Federführend waren neben Elisabetta Scirocco, die damals in Florenz forschte, Gerhard Wolf, Direktor am Institut, sowie Carmen Belmonte. Naturkatastrophen sind wiederkehrende Ereignisse in der Geschichte italienischer Städte und Landschaften – bis in die heutige Zeit, was die Aktualität der Forschung unterstreicht: Auch in jüngster Vergangenheit haben Erdbeben in L'Aquila in den Abruzzen (2009), in der Emilia-Romagna (2012) und Mittelitalien (2016-2017) gezeigt, wie aktuell das seismische Problem ist. Für die Forschung zu Neapel erweiterte Scirocco die Perspektive vom Mittelalter ausgehend über die Gegenwart und das 19. Jahrhundert hinaus. Im Projekt zur neapolitanischen Geschichte verbindet sie historische, seismologische und vulkanologische Forschung, Architekturgeschichte, Archäologie, Philologie, Wissenschaftsgeschichte, historischer Anthropologie und Soziologie.
„Wir untersuchen aus einer historischen, Perspektive über die Zeit hinweg den Umgang mit Katastrophen und das Leben mit dem Vulkan als identitätsstiftendes Merkmal der neapolitanischen Kunst und Kultur“, fasst Scirocco zusammen. „Die Rolle der Kunst in der Katastrophenforschung war jedoch bislang marginal und hauptsächlich auf die Darstellung von katastrophalen Ereignissen beschränkt. Für die Kunstgeschichte lässt sich ein Bereich mit großem Potenzial erschließen, der für einen Dialog über die Grenzen der Disziplinen hinweg offen ist.“
Auf den Punkt gebracht:
Erdbeben und Vulkanausbrüche prägen seit Jahrhunderten Kultur und Gesellschaft in Neapel.
Das zeigt sich in der Architektur in rekonstruierten und erneuerten Bauwerken, in der bildenden Kunst und ebenso in religiösen Ritualen.
Der Fokus auf Naturkatastrophen schafft eine neue kunsthistorische Perspektive auf die vielschichtige kulturelle Entwicklung der Stadt.